Abb. 1: Cover der japanischen Ausgabe von „Koe no katachi“
In dem Manga Koe no katachi („A Silent Voice“, 2013–2014) von Ôima Yoshitoki ist eine der Protagonistinnen ein gehörloses Mädchen. Eine solche Darstellung ist im Genre des shônen Manga, dem das Werk angehört, sicher außergewöhnlich – aber handelt es sich auch um eine realistische und fortschrittliche Thematisierung des Lebens mit Gehörlosigkeit? Maya Matsubara hat sich Koe no katachi und die Protagonistin Nishimiya Shōko für uns etwas genauer angesehen.
「変な奴」(„Die ist seltsam“) – ist die erste Reaktion von Ishida Shōya, als die gehörlose Nishimiya Shōko sich der Klasse vorstellt. Durch ihre Andersartigkeit weckt Shōko sofort die Neugier von Shōya, der anfängt, sogenannte „Experimente“ mit dem „Alien Nishimiya“ durchzuführen. Die von ihm angezettelte anfängliche Neckerei eskaliert schnell zur Schikane gegen sie durch die ganze Klasse. Als jedoch nach dem Täter der Schikane gesucht wird, wird Shōya als alleiniger Täter von der Klasse bloß gestellt. Von da an beginnt eine neue Schikane der Klasse gegen ihn. Shōko wechselt kurz darauf die Schule und verschwindet aus seinem Leben. Sechs Jahre später, im dritten Jahr der Highschool, beschließt Shōya, seine Schuld bei Shōko wiedergutzumachen und sucht sie auf. Sie wagen einen Neuanfang als Freunde und treffen auf alte Klassenkameraden, die ebenfalls mit den Ereignissen der Vergangenheit hadern. Durch ein gemeinsames Filmprojekt mit alten und neuen Klassenkameraden entstehen neue Freundschaften, aber auch Konfrontationen mit der Vergangenheit und Spannungen.
Ein 14-jähriger Schüler erhängt sich, eine andere Schülerin springt aus dem achten Stockwerk in den Tod. Das sind nur zwei Beispiele von Vorfällen, welche sich in der jüngeren Vergangenheit in Japan ereignet haben. Aber was sind die Gründe für diese dramatischen Suizide?
Die Selbstmordrate Jugendlicher stellt schon seit langem in Japan ein Problem dar. Auch wenn die Quote in den letzten Jahren zurückgegangen ist, so sehen Jugendliche immer noch oft keinen anderen Ausweg mehr als sich das Leben zu nehmen.
Einer der häufigsten Gründe liegt darin, dass Schüler Opfer von Schikanen der Mitschüler werden. In Japan ist das Wort für Schikanen Ijime (jap. 虐め). Drangsalieren von Mitschülern auf den Schulfluren oder zwischen den Stunden im Klassenraum gehört zur Tagesordnung.
So ist im oben genannten Fall des 14-jährigen Schülers von einem Klassenkameraden auf 500 Yen erpresst worden. Dabei hatte sich der mutmaßliche Täter nicht einmal etwas von seinem Opfer geborgt. Als der 14-Jährige die unbegründete Geldübergabe verweigerte, forderte der Erpresser anschließend eine Summe von 20.000 Yen (umgerechnet ca. 132 Euro). In seiner Verzweiflung wandte sich der Schüler an einen Lehrer. Der Pädagoge gab zwar an mit dem Erpresser reden zu wollen, doch dazu kam es nicht mehr. Man fand den 14-jährigen Jungen zu Hause, erhängt in einer Abstellkammer.
Ein weiteres Opfer infolge von Ijime stürzte sich aus dem 8. Stockwerk eines Hochhauses. Das 12-jährige Mädchen nahm sich das Leben, weil sie wegen ihrer geringen Körpergröße gehänselt wurde. Zuvor schrieb sie in einem Abschiedsbrief: „Ich nehme mir das Leben. Tschüss.“ (Quelle: Spiegel)
Der stetig anwachsende Leistungsdruck ist neben dem Mobbing eine weitere Hauptursache für die hohe Selbstmordrate in Japan. Der immense Leistungsdruck wird von den Lehrern und Eltern aufgebaut und kann sich ebenfalls auf das Mobbing auswirken. Vor allem die Schüler, die den hohen Erwartungen nicht standhalten können, neigen dazu ihren Frust an ihren Mitschülern auszulassen. Statistiken zeigen, dass insbesondere vor und während der Prüfungsphase das Mobbingpotenzial am höchsten ist.
Dabei treten die Täter meist nicht alleine sondern in Gruppen auf und suchen sich charakterlich schwache Schüler oder gar Neulinge aus, welche sie dann ausgrenzen und drangsalieren. Die Schikanen reichen von verbaler Gewalt, über Sachbeschädigung, bis hin zur physischen Gewalt. Es werden beispielsweise Tische und Schulmaterialien beschmiert und privates Eigentum in den Müll oder in die Toilette geworfen. Außerdem kann es zu starken körperlichen Verletzungen kommen, durch das Einprügeln der Gruppen auf ein einzelnes Opfer.
Warum aber greifen viele Jugendliche zu einem solch drastischen und brutalen Ende wie dem Selbstmord?
Die Schüler fühlen sich alleine gelassen und finden oft keinen anderen Ausweg.
Der sowohl von den Eltern als auch von der Schule vorgegebene Leistungsdruck, sowie die daraus resultierende Schikane, bewegen die Schüler immer wieder zum Suizid. Zudem zielt das japanische Gesellschaftsbild nicht darauf ab, die eigene Individualität zu fördern, sondern eine elitäre Auslese herauszubilden. Die mangelnde Unterstützung und fehlende Empathie der Pädagogen und Eltern tragen verstärkt zu dieser sozialdarwinistischen Ansicht bei.
Die Politik ist sich dieses unrühmlichen Phänomens bewusst und auch im Fernsehen wird die angeführte Problematik zunehmend behandelt. Das bekannte japanische Drama LIFE (ライフ) ist nur ein Beispiel für die anwachsende mediale Thematisierung des Suizids infolge mangelnden Schulerfolgs und Mobbings. Im ersten Teil dieser Serie wird zum Beispiel gezeigt, wie ein Mädchen unter dem Leistungsdruck zusammenbricht und Selbstmord begeht. Im weiteren Verlauf des Dramas wird außerdem vermehrt auf das Thema Mobbing eingegangen.
Um dem Mobbing und dem Leistungsdruck entgegenzuwirken muss man etwas an dem gesellschaftlichen Grundgedanken ändern. Dabei sollte das Individuum insbesondere von den Eltern und Lehrern sofortige Unterstützung erhalten – vor allem in sozial-emotionaler Hinsicht. Gerade wenn ein Schüler die Eltern und Lehrer um Rat bittet, ist das bereits ein Zeichen höchster Alarmbereitschaft. Entsprechend sollten die Erzieher umgehend reagieren und nach einer gemeinsamen Lösung suchen, notfalls auch unter der Hinzunahme von professioneller Unterstützung (z.B. Psychologen). Eins sollte den Schülern aber stets bewusst gemacht werden: Selbstmord ist nicht nur nicht der einzige Ausweg aus dieser Misere, sondern auch der falsche.