Kôno Fumiyos Manga„In this Corner of the World“ schildert das Leben von Frauen in Japan zu Kriegszeiten mit einer großen Liebe zum Detail und auf hohem künstlerischen Niveau. Das hat zu einer großen Popularität des Werks geführt, das mittlerweile über die Anime-Adaption auch international bekannt geworden ist. Wie Lisa Weinert hier darstellt, liegt der Fokus des Manga jedoch vor allem auf der Opferperspektive, und Japans Kriegsschuld ist nicht wirklich ein Thema.
Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki sind ein Thema in Japan, das immer wieder aufgegriffen und neu verarbeitet wird. Die Position Japans im zweiten Weltkrieg dagegen wird nur selten kritisch thematisiert oder von verschiedenen Seiten beleuchtet. Ein Blick auf das Leben der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten erleichtert es, die Opferposition, die Japan in dieser Erinnerungskultur einnimmt, zu zeigen und auf empathische Weise zu vermitteln. Die Frage, inwieweit man die normale Bevölkerung für die Kriegsverbrechen verantwortlich machen kann, welche von Japan im Zweiten Weltkrieg begangen wurden, wäre in diesem Kontext zwar eine sehr spannende, wird allerdings nur selten aufgegriffen. So bleibt sie auch in Fumiyo Kōnos Werk „In this Corner of the World“ aus, auch wenn die Geschichte durchaus das Potential gehabt hätte, sie zu untersuchen.
Fumiyo Kōno wurde 1968 in Hiroshima geboren und ist damit zu jung, um eigene Erlebnisse des Atombombenangriffs zu schildern, dennoch scheint dieses Thema für sie sehr wichtig zu sein. Bereits zwischen 2003 und 2004 erschien mit „Town of Evening Calm, City of Cherry Blossom“ (jap. Yûnagi no machi, sakura no kuni) ein Manga von ihr, in dem sie das Thema behandelte. Dieses Werk kann als ihr nationaler und internationaler Durchbruch betrachtet werden. 2008 bis 2009 veröffentlichte sie dann „In this Corner of the World“ (jap. Kono sekai no katasumi ni) in der seinen-Zeitschrift „Manga Action“, die vom Futabasha-Verlag publiziert wird. Der Manga wurde in drei Sammelbänden zusammengefasst und in den folgenden Jahren ins Spanische, Italienische, Französische und Deutsche übersetzt. Hier erzählt sie vom Alltag einer jungen Frau zu Zeiten des zweiten Weltkriegs in Kure, eine kleine Hafenstadt mit Marinestützpunkt in der Präfektur Hiroshima. Der Manga umfasst den Zeitraum von 1934 bis 1946 und thematisiert den Verlauf des Krieges sowie das Erwachsenwerden der Protagonistin. 2016 wurde die Geschichte auch als Anime-Film adaptiert.
Die Geschichte der Protagonistin Suzu Urano (später Suzu Hōjō) beginnt mit kurzen Erzählungen aus ihrer Kindheit und zeigt, wie sie mit ihrer Familie in Hiroshima aufwächst. Als junge Erwachsene heiratet sie den von ihren Eltern ausgewählten Shusaku Hōjō und Suzu zieht zu seiner Familie nach Kure. Hier lebt das Ehepaar gemeinsam mit den Eltern und der Schwester von Shusaku sowie ihrer Tochter. Suzu wird als fröhlich, hilfsbereit und tollpatschig dargestellt. Trotz der stereotypen Darstellung einer freundlichen und unschuldigen Frau hat sie auch Charakterzüge, die sie als weniger perfekt zeigen, da sie durch ihre unbekümmerte Art manchmal nicht den für Frauen angemessenen Konventionen entspricht.
Die Erzählung zeigt den Alltag der Familie und soll das normale Leben der Zivilbevölkerung widerspiegeln. Mit fortschreitender Handlung rückt der Krieg jedoch näher, und auch Kure wird zum Ziel von Luftangriffen. Was außerhalb dieser Stadt passiert, sowohl innerhalb als auch außerhalb Japans, wird kaum thematisiert. Dies wirkt wie eine Darstellung der unschuldigen und unwissenden damaligen Bevölkerung und entspricht somit auch der gängigen Art japanischer Medien, von dieser Zeit zu erzählen. Seinen Höhepunkt findet der Manga nicht im Abwurf der Atombombe auf Hiroshima, sondern in einem weiteren Luftangriff auf Kure, in welchem Suzus Nichte stirbt und Suzu selbst ihre rechte Hand verliert. Ab diesem Punkt wandelt sich ihr Wesen grundsätzlich, sie wird still, pessimistisch und kalt. Zu diesem Zeitpunkt trifft sie die Entscheidung, zu ihrer Familie nach Hiroshima zurückzukehren, doch der Atombomenabwurf folgt kurz darauf und sie bleibt schlussendlich doch bei ihrem Ehemann und seiner Familie.

Die Explosion der Atombombe selbst ist sehr bildgewaltig dargestellt (Abb. 1, Band 3, S. 52+53). Der Teil der Explosion, der von Kure aus sichtbar war, erstreckt sich über eine Doppelseite. Der Manga zeigt die Auswirkungen der Explosion auf unterschiedliche Weise. Es wird von Figuren berichtet, die um Hilfe zu leisten nach Hiroshima gingen und seit ihrer Rückkehr sehr schwach sind. Auch Suzus Schwester leidet unter den Folgen der Strahlung. Suzu selbst reist ebenfalls in das zerstörte Hiroshima, wo neben den Trümmern der Gebäude viele Menschen zu sehen sind, die wie Suzu selbst auf der Suche nach Angehörigen sind. Der Fokus auf diese direkten Folgen ist allerdings nicht so stark wie in anderen Werken, die sich mit dem Atombombenangriff auseinandersetzen. Der Fokus von „In this Corner of the World“ liegt mehr auf den Kriegsjahren selbst, den Einzelschicksalen der Charaktere und den Luftangriffen auf die Stadt Kure.
Alle im Manga gezeigten Luftangriffe entsprechen tatsächlichen Angriffen, die damals stattfanden. Den Manga-Bänden sind viele Erläuterungen zu den damaligen Geschehnissen sowie Quellenverzeichnisse und Berichte über die Recherche der Autorin angehängt, was zur Authentizität des Werkes beiträgt.
Der Manga zeigt über seine Charaktere auch viele Aspekte und Problematiken des damaligen Lebens; so hilft Suzu beispielweise in einer Nachbarschaftsvereinigung (jap. tonarigumi), wo sie unter anderem Rationen und Informationsrundschreiben an die Bevölkerung verteilt. Auch freundet sie sich mit einem Mädchen an, das als Kind von ihren Eltern verkauft wurde, schließlich als Prostituierte arbeitet und weder lesen noch schreiben kann. Shusakus Schwester hingegen wird als moderne und eigensinnige Frau beschrieben, was dazu führt, dass viele der anderen Charaktere Schwierigkeiten haben, mit ihr zurecht zu kommen. Über sie wird auch die damalige Familienstruktur verdeutlicht: Nach dem Tod ihres Ehemannes zieht sie bei ihren Schwiegereltern aus, die aber ihren kleinen Sohn als zukünftiges Familienoberhaupt in der Familie behalten, sodass nur ihre Tochter mit ihr kommen kann. Die männlichen Charaktere üben alle Berufe aus, die in Zusammenhang mit dem japanischen Militär stehen, und im Verlauf der Geschichte verstirbt Suzus Bruder bei einem Militäreinsatz. Was nicht thematisiert wird sind Opfer anderer Nationalitäten, wie etwa die vielen koreanischen Opfer, oder auch die Kriegsverbrechen, die Japan in anderen Ländern begangen hat. Gerade durch die vielen Charaktere, die unterschiedliche Einblicke in das Leben in Kriegszeiten bieten, hätte sich das jedoch angeboten.
Der Manga ist sehr außergewöhnlich gestaltet. Teilweise bestehen Kapitel nur aus Anleitungen von Suzu zum sparsamen Kochen, dem Errichten eines Schutzbunkers oder wie mit bestimmten Bombentypen umgegangen werden muss, sollten sie das eigene Haus treffen. Ein Kapitel besteht ausschließlich aus Spielkarten, welche die Autorin neu gezeichnet und so zum Teil ihrer Geschichte gemacht hat. Rasterfolie kommt in diesem Manga nicht zum Einsatz, alles ist von Hand gezeichnet und wirkt so authentisch und unterscheidet sich optisch von anderen Mangas, die in der gleichen Zeit erschienen sind. Nachdem Suzu ihre rechte Hand verliert, sind manche Seiten sehr unsauber gestaltet und wirken wie mit links gezeichnet, was ihren emotionalen Zustand nach dem Tod ihrer Nichte verdeutlicht (Band 3, S. 58+59 und S. 62+63). In einem einzigen Panel, das eine ganze Doppelseite einnimmt, reflektiert Suzu den Verlust ihrer Hand und erinnert sich, welche Erlebnisse sie mit dieser Hand verbindet (Abb. 2).

Trotz Suzus Aufwachsen in Kriegszeiten und den Verlusten, die sie durch den Krieg erlitten hat, stellt sie ihn nie in Frage. Sie kritisiert auch die Einsätze des eigenen Militärs nicht oder konfrontiert ihren Ehemann damit, dass er durch seine eigene Arbeit zum Krieg beiträgt. Auch die Mitarbeit in der Nachbarschaftsvereinigung leistet sie, ohne die Tätigkeiten zu hinterfragen. Dennoch hätten verschiedene Situationen das Potential geboten, die Notwendigkeit des Krieges und die Verantwortung des eigenen Landes zu hinterfragen, wie der Tod ihres Bruders und ihrer Nichte.
Nur nachdem Japan seine Kapitulation erklärt kommt es zu einem emotionalen Ausbruch, bei dem Suzu zunächst der Kapitulation widerspricht, ihr dann aber klar wird, dass die militärische Unterwerfung Japans bedeuten muss, dass Japan selbst auch andere Länder militärisch unterworfen hat (Band 3, S. 96+97). Dies wird jedoch später nicht weiter thematisiert und bringt auch sonst keinerlei Konsequenzen mit sich.
Auch wenn der Manga vielen kritischen Fragen aus dem Weg geht, so zeigt er doch realitätsnah das Leben zu Kriegszeiten in Japan in einem kleinen Dorf und thematisiert die Relevanz des Marinestützpunktes in Kure. Der Krieg scheint manchmal allerdings mehr wie ein Übel von außen: durch die Angriffe auf den Marinestützpunkt wirkt es wie schlichtes Unglück, dort in der Nähe zu wohnen oder zu arbeiten. Das mag für die Zivilbevölkerung in einem gewissen Rahmen auch durchaus zutreffen, doch dass Japan durch seine eigenen Taten dazu beitrug, dass es überhaupt so weit kam, findet keine Erwähnung. Dennoch ist dieser Manga international sehr beliebt und die künstlerische Leistung der Autorin ist für sich betrachtet sehr anspruchsvoll und kreativ. Der große Erfolg der Serie zeigt sich auch in der populären Anime-Adaption und der Übersetzung des Manga in andere Sprachen.
Auf Deutsch ist der Manga im Carlsen-Verlag erschienen.
Lisa Weinert