Viele populärkulturelle Werke über den Pazifikkrieg, die in Japan erschienen sind, nehmen einen weiblichen Blickwinkel ein – und rücken dabei häufig den Fokus weg von den Grausamkeiten der Front. Cocoon von Kyô Machiko ist anders: Obwohl sich die Künstlerin einer Ästhetik der Niedlichkeit bedient und eine Gruppe von Mädchen zu den Protagonistinnen ihres Werks macht, zeigt sie in erschütternder Direktheit die Entmenschlichung, welche die Schlacht um Okinawa (1. April – 30. Juni 1945) mit sich brachte. Martin Breuer stellt uns dieses Werk vor, das sicher nichts für zart besaitete Leser/innen ist.
Der Manga „Cocoon“, der 2010 von Akita Shoten veröffentlicht wurde, befasst sich mit den „Himeyuri-Schülerinnentrupps“, die während der Schlacht um Okinawa zu Ende des Zweiten Weltkrieges als Krankenschwestern für verwundete Soldaten eingesetzt wurden. Von den 222 Schülerinnen, die auf diese Weise zum Einsatz kamen, verloren die meisten ihr Leben. Die Verfasserin des Manga machte ihren Abschluss an der „Tokyo University of Arts“ und arbeitet heute unter dem Pseudonym Kyô Machiko. Sie wurde von einem ursprünglich aus Okinawa stammenden Redakteur gebeten, dieses Werk zu verfassen und betrachtete es als eine große Herausforderung, da sie wie sie in einem Interview schildert, weder Kriegsopfer in ihrem näheren Bekanntenkreis hat, noch in einer Region aufwuchs, welche stark vom Krieg beeinflusst wurde. „Cocoon“ sticht im Vergleich zu den anderen eher niedlich gehaltenen Projekten auf dem Blog der Künstlerin („Sennen Pictorial“) deutlich durch schockierende Kriegsszenerien hervor. Kyôs Ziel war es, mit dieser fiktiven Geschichte, die nah an die Realität angelehnt ist, ein beunruhigendes Gefühl beim Leser auszulösen, was ihr meines Erachtens sehr gut gelungen ist.
Zunächst beginnt alles noch recht friedlich. Die Hauptcharaktere San und Mayu sowie einige ihrer Klassenkameradinnen werden uns vorgestellt, während sie an einem sonnigen Tag Zeltplätze für Soldaten errichten. Mayu ist durch ihr Aussehen und Auftreten eins der beliebtesten Mädchen der Schule geworden, wohingegen San eher verträumt und zurückhaltend dargestellt wird. Zunächst ist der Krieg, der im Hintergrund abläuft, nur dadurch bemerkbar, dass die erste Szene auf einem Soldatenzeltplatz spielt. Während man den Mädchen beim Plaudern und Austauschen von Postkarten zuschaut, ahnt man noch nichts Böses. Erst als die mit San und Mayu befreundeten Zwillinge auf eine ironisch glückliche Art und Weise erklären, warum man sie seit dem letzten Luftangriff nun nicht mehr verwechseln könne, offenbart sich das wahre Ausmaß des Krieges. In einer Rückblende sieht man dazu, wie eine der Zwillingsschwestern durch brennende Trümmer auf den Boden gedrückt wird, welche ihren Rücken verbrennen und eine unübersehbare riesige Narbe hinterlassen.
In den folgenden Kapiteln bekommt man einen Eindruck von der Arbeit als Hilfskrankenschwester auf der Krankenstation, die sich in einer der vielen auf Okinawa vorkommenden Höhlen befindet. San und Mayu sowie alle Schülerinnen, die dort arbeiten, haben sich freiwillig dazu verpflichtet, rund um die Uhr verletzte Soldaten zu pflegen. Alle Kinder sehen sich dazu aufgefordert, in diesem Krieg persönlich so viel beizutragen, wie sie nur können. In der Realität waren die beteiligten Schülerinnen in einem Alter von 15 bis 19 Jahren, im Manga wirken sie allerdings noch jünger. Als eine Schülerin aufgefordert wird, bei einer Amputation auszuhelfen und ein abgetrenntes Bein entsorgen muss, erkennt man, dass sie nicht geahnt hat, was sie bei dieser Arbeit erwartet. Wie sollte sie auch?

Um mit der Situation fertig zu werden, sucht sich San Hilfe bei Mayu. Diese kreiert für sie die Vorstellung, dass alle Soldaten nur weiße und unbedeutende Wesen sind. So werden auch alle Männer im Manga weiß, schemenhaft und ohne Gesichter dargestellt, so dass sie in den meisten Bildern kaum auffallen (vgl. Abb. 1). Diese Vorstellung, die ihr Mayu vermittelt, ist eine von mehreren, die San im Manga vor der grausamen Realität schützen. Zusammen kann man diese „Traumwelten“ als den für das Werk namensgebenden Kokon betrachten. Das zentrale Motiv des Kokons taucht erstmals am Anfang des Werks mit folgendem Gedankengang auf: Die Wolken, die an kalten Tagen beim Ausatmen entstehen, kann man sich als Seidenfäden vorstellen, die zusammen einen schützenden Kokon bilden. Passend dazu, dass San in den meisten Fällen von Mayu beschützt wird, ob durch konkrete Abwehr vor Bedrohungen oder Gedankenspiele, bedeutet „Mayu“ im Japanischen auch „Kokon“. Ein weiteres Beispiel für das Kokon-Motiv ist auch der Geruch der Seife, den San an ihren Händen hat und mit dem sie ihre Nase bedeckt, als sie über ein nach Verwesung stinkendes Schlachtfeld laufen muss.
Im weiteren Verlauf spitzt sich der Krieg immer weiter zu, was sich für die Mädchen durch die stetig wachsende Anzahl der in die Höhle eingelieferten und sterbenden Soldaten zeigt. Je weiter der Manga voranschreitet, desto düsterer wird auch die Atmosphäre. Selbst Sans Freundinnen versterben nach und nach. So erliegt eine den Folgen von Mangelernährung und eine andere wird von einer Bombe getroffen. Die Bilder im Manga zeigen dies erschreckend realistisch. So ist das Bombenopfer beispielsweise mit hervorquellenden Eingeweiden abgebildet (vgl. Abb. 2). Diese brutalen Abbildungen werden häufig im direkten Kontrast zu den niedlichen Charakteren genutzt, um den verstörenden Effekt noch zu steigern. Als die japanischen Truppen schließlich den Befehl geben, die Höhle zu räumen, werden die Schülerinnen sich selbst überlassen, ohne große Hoffnungen, das Kriegsgebiet lebendig verlassen zu können. Auf der Flucht versterben dann alle bekannten Charaktere bis auf San und Mayu, und als wäre die Situation nicht schon schlimm genug, wird San auch noch von einem traumatisierten Soldaten vergewaltigt. Trotz all dieser schrecklichen Ereignisse fragen sich San und die anderen Mädchen noch, ob sie für ihre Nation in diesem Krieg nützlich waren.

Ein weiteres Mittel, das die Autorin nutzt, um bestimmte Situationen hervorzuheben, sind verschiedene Insekten. So werden Maden auf Wunden und Leichen genutzt, um Tod und Verwesung zu signalisieren. Kakerlaken tauchen meist dann auf, wenn Gefahr droht. So auch bevor Mayu und San am Ende ihrer Flucht in einen Beschuss geraten, in dem Mayu tödlich verwundet wird. Bei dem sterbenden Mädchen, das durch die Bombe schwer verwundet wurde, erscheint ein Schmetterling (Abb. 2); hier könnte man das Insekt als Zeichen ihrer Unschuld in Bezug auf das gesamte Geschehen deuten. Seidenraupen werden durchgehend als Vergleich zu den Schülerinnen genutzt. Zu Beginn des Manga erklärt eine Lehrerin San, dass Seidenraupen lebendig in ihrem Kokon gekocht werden und nur sehr wenige übrig gelassen werden, um den Bestand zu erhalten. Am Ende steht San für diese verbliebene Seidenraupe, die all ihren Freunden beim Sterben zusehen musste.
Im letzten Kapitel sehen wir San und ihre Mutter im Gefangenenlager der Amerikaner. Dort werden sie wider Erwarten freundlich behandelt. Die amerikanischen Soldaten werden (obwohl sie Männer sind) nicht als konturlose weiße Wesen gezeichnet, da sie wie Sans Mutter feststellt bessere Menschen als die eigenen Soldaten seien, welche sie schlecht behandelt und im Stich gelassen hätten. Außerdem erfahren wir, dass auch Sans Vater und Bruder die Schlacht überlebt haben. Dieses abrupte Ende, das zumindest für Sans Familie glücklich verläuft, wirkt im Vergleich zum Rest des Werkes surreal; hierin könnte man auch einen Hinweis darauf sehen, dass es sich nur um eine fiktive Geschichte handelt.
Lediglich ein Aspekt ist mir etwas negativ an diesem Werk aufgefallen. Mayu entpuppt sich am Ende des Werks als Junge, dessen Eltern beschlossen haben, ihn als Mädchen verkleidet nach Okinawa zu schicken, um ihn vor dem Dienst an der Front zu schützen. Das ist insofern schade, als dass er im Werk das einzige Mädchen ist, das immer wieder Entscheidungen trifft und aktiv handelt. Die anderen Mädchen nehmen wie in anderen Werken zu diesem Thema eher die typische Opferrolle ein. Dadurch, dass Mayu schließlich doch ein Junge ist, unterstützt auch dieses Werk die in Japan gängige Darstellung von Frauen im Krieg: Vorwiegend passiv und als Opfer.
Ansonsten würde ich jedem, der Interesse an diesem Thema hat und nicht vor schauderhaften Bildern zurückschreckt, diesen Manga ans Herzen legen. Bisher ist der Manga offiziell auf Japanisch, Italienisch und Spanisch erschienen. Eine englische Übersetzung liegt nur als Scanlation vor.
Martin Breuer