Franz Kafka wollte nicht, dass der Protagonist seiner Erzählung „Die Verwandlung“, Gregor Samsa, in seiner Ungeziefer-Gestalt bildlich dargestellt wird. Künstlerinnen und Künstler, die das Werk für Manga oder Film adaptieren wollen, stehen daher vor einem Dilemma. Die Nishioka-Geschwister haben für ihre Version der „Verwandlung“ eine Lösung für dieses Problem gefunden: Sie stellen Gregor Samsa einfach gar nicht dar. Wie Imke Seidel uns hier erläutert, funktioniert das erstaunlich gut.
In diesem Blogartikel möchte ich eine Adaption von Franz Kafkas „Die Verwandlung“ vorstellen. Das Werk trägt den Titel „The Metamorphosis“ (henshin 変身) und erschien im April 2010 in dem Sammelband „Kafka (カフカ): classics in comics“. Die beiden Mangaka Satoru und Chiaki Nishioka, die Geschwister sind und unter dem gemeinsamen Namen Nishioka Kyôdai veröffentlichen, präsentieren hier verschiedene Adaptionen zu Kafkas Werken. Neben der Verwandlung sind u.a. „Ein Hungerkünstler“ oder „Ein Landarzt“ enthalten. Die Adaptionen sind offiziell nur auf Japanisch erhältlich, es existiert aber eine englische Scanlation, die von Ikeuchi Osamu bzw. Willa und Edwin Muir angefertigt wurde.
Bevor ich aber genauer auf die Adaption von „Die Verwandlung“ eingehe, möchte ich kurz das Nachwort von Nishioka Satoru einbeziehen, welches sich speziell auf die Umsetzung der „Verwandlung“ bezieht.
Hier äußert sich der Mangaka zu seinen ursprünglichen Gedanken, keine Manga-Adaption zu Kafkas „Die Verwandlung“ verfassen zu wollen. Da Kafka selber den Wunsch hatte, dass der Protagonist der Geschichte, Gregor Samsa, nicht bildlich dargestellt werden soll, erschien es Nishioka Satoru unmöglich, einen Manga entsprechend diesem Wunsch zu zeichnen. Zudem empfand Nishioka die Geschichte zunächst als nicht besonders interessant. Während er andere Kurzgeschichten Kafkas mehrfach gelesen hatte, hatte er „Die Verwandlung“ nur ein einziges Mal vor vielen Jahren gelesen und seitdem sei sie für ihn in Vergessenheit geraten. Die allgemeine Meinung, dass die Geschichte eine Metapher für Einsamkeit oder eine Parabel des modernen Lebens sei, erschien ihm schlichtweg langweilig. Aufgrund dieser persönlichen Empfindung wollte er „Die Verwandlung“ auch nicht in den Sammelband aufnehmen, sah sich jedoch aus verkaufsstrategischen Gründen dazu gezwungen.
Während der Erarbeitung der Adaption, und beim erneuten Durchlesen der Geschichte, fiel im besonders eine Szene auf: Gregors Gedanken zu dem Geigenspiel seiner Schwester Grete für die drei Untermieter. In dieser Szene wird laut Nishioka Satoru deutlich, dass Grete die versteckte Protagonistin ist und es sich eigentlich um eine Geschichte von Liebe und Hunger handelt. Nishioka sieht hier die Konzepte von Macht und Wirtschaft eng mit den Motiven der Geschichte verbunden und kommt zu der Schlussfolgerung, dass diese Konzepte Kafka ein Leben lang beschäftigt haben und immer wieder auftauchende Motive in seinen Geschichten sind. In Nishiokas Augen war Kafka ein alltäglicher Künstler, dessen Motiv der „Nahrung“ auch in der heutigen Gesellschaft ein zentrales Thema ist: „One cannot feed oneself on mist. We must quickly find a new source of food” (S. 171).
In seinem Nachwort spielt er somit auf die bereits verschimmelten Essensreste an, die Grete in der Geschichte ihrem Bruder in sein Zimmer stellt. Gregor scheint zuerst seinen Hunger damit befriedigen zu können, doch im Verlauf der Geschichte hat er immer weniger Appetit und verweigert schließlich auch jegliche Nahrung, wodurch seine Energie schwindet. Erst als er die Geigentöne seiner Schwester hört, scheint er plötzlich wieder von Kraft erfüllt. Er hofft, dass sie ihm durch ihr Geigenspiel neue „Nahrung“ bieten kann und seinem Dasein einen neuen Sinn verleiht. Jedoch ist sie die erste Person der Familie, die zu dem Schluss kommt, dass „es“ (Samsa) verschwinden muss.

Dieses ausführliche Nachwort gibt ein erstes Verständnis für die eher außergewöhnliche Darstellungsweise der Geschichte im Sammelband. Schon auf dem ersten Blick lässt sich erkennen, dass der ausschließlich in den Farben Schwarz und Weiß gewählte Zeichenstil eher fremd und in gewisser Weise auch surreal wirkt. Dieser surreale Stil scheint das ebenfalls abstrakte Konzept der „Nahrung“ widerzuspiegeln: Samsa ist nicht auf der Suche nach tatsächlichem Essen um seinen Hunger zu stillen, sondern nach etwas, dass seiner Existenz einen Sinn gibt und ihn erfüllt. Der Effekt der Surrealität wird durch mehrere Darstellungsweisen erzeugt. Zum einen ist der Stil geprägt durch Positiv- und Negativformen, welche das Gefühl des „Erfüllens“ darstellen könnten. So ist schon zum Beispiel auf dem Titelbild von „The Metamorphosis“ zu erkennen, dass die Spitze des Turms sich im Streifen am Boden widerfinden lässt, oder dass die weißen Kreise in den Fenstern den schwarzen Kreisen auf den Linien entsprechen (Abb. 1). Die einzelnen Formen „erfüllen“ sich also gegenseitig. Zum anderen gibt es keine gemeinsamen Fluchtpunkte der Objekte, wodurch sowohl die Perspektive, als auch die Realität der Geschichte verzogen wirkt.
Zu der dargestellten Perspektive ist zudem festzuhalten, dass sie in der Geschichte immer wieder zwischen der von Samsa und der eines Beobachters wechselt. Einige Szenen folgen der üblichen Handlungsachse (z.B. S. 28), wie man sie von z.B. Filmen kennt, während an anderen Stellen Achsensprünge stattfinden. Diese Achsensprünge erzeugen ein Gefühl der Orientierungslosigkeit. Es wird also dem Leser durch mehrere verzerrende und surreale Darstellungsweisen bewusst erschwert, ein Raum- und Zeitgefühl beizubehalten.
Wie Nishioka Satoru bereits im Nachwort angesprochen hat, ist eine große Problematik von allen Adaptionen zu Kafkas „Die Verwandlung“ die Darstellung des Protagonisten Gregor Samsa in seiner verwandelten Gestalt, da sich Franz Kafka selbst keine konkrete Darstellung der Gestalt Gregor Samsas wünschte. Dies erschwert jedoch eine visuelle Adaption der Geschichte. Nishioka Kyôdai sind in ihrer Adaption dem Wunsch Franz Kafkas nachgekommen und entschieden sich dazu, Gregor Samsa schlichtweg gar nicht darzustellen und sie verzichteten somit darauf, sich auf eine Ungeziefer-Gestalt festzulegen. Daher gibt es in der gesamten Geschichte keine einzige Zeichnung Samsas und es wird in den entsprechenden Szenen lediglich ein schwarzes Feld gezeigt, wie z.B. auf Seite 23 unter dem Sofa zu sehen ist (Abb. 2). Dies verstärkt gleichzeitig auch das Gefühl der Surrealität, da man als Leser gar nicht genau weiß, um was für eine Kreatur es sich handelt und welche genaue Größe sie hat. Es wird also dem Leser selbst überlassen, sich Gregors Gestallt vorzustellen, was wiederum der vagen Beschreibung im Original von Kafka entspricht.

„The Metamorphosis“ erscheint nicht die Art von Adaption zu sein, die einem vielleicht beim Lesen des Originalwerkes als erstes in den Sinn kommt. Dennoch scheinen alle Eigenschaften der Adaption sich mit den Merkmalen des Originals verbinden zu lassen. Der komplett surreale Gedanke der Geschichte, eines Tages plötzlich als Ungeziefer aufzuwachen, wird mit allen Mitteln in der Darstellungsweise der Adaption wiedergegeben. Keine Farben, keine Fluchtpunkte, keine Darstellung des Protagonisten, und wechselnde Perspektiven – alle Eigenschaften dienen dem auffälligem Merkmal der Geschichte, fernab der Realität zu sein.
Nishioka Kyôdai schaffen es dennoch, dass Samsas Gefühle lebhaft erscheinen und besonders seine Suche nach „Nahrung“ in einem metaphorischem Sinne vom Leser nachvollziehbar ist. Der außergewöhnliche Zeichenstil gibt gerade durch seine unkonventionellen Eigenschaften eine für die Geschichte passende Atmosphäre wieder, da die auf den Leser fremd wirkende Darstellungsweise die orientierungslose und in die Enge getriebene Lebenswirklichkeit Samsas veranschaulicht.
Auch wenn „The Metamorphosis“ auf den ersten Blick vielleicht nicht besonders anziehend wirkt, so werden besonders Kafka-Fans von dieser Adaption nicht enttäuscht sein, da sie viele neue Blickwinkel auf die Geschichte liefert und durch den individuellen Zeichenstil Samsas Situation besonders unter dem Aspekt der Entfremdung und Surrealität betrachtet.
Imke Seidel