Hino Hideshis Horror-Klassiker “Bug Boy” ist eine ganz besondere Manga-Adaption von Franz Kafkas “Verwandlung”. Julia Weltring und Patrick Görtsgen, die das Werk hier besprechen, sehen in dieser grotesken, gesellschaftskritischen Version positive Anklänge: Der Protagonist ist zwar ganz besonders monströs, hat aber auch mehr Handlungsmacht als bei Kafka.
In seinem Manga “Bug Boy” (毒虫小僧 Dokumushi kozō), der in Japan 1975 erschienen ist, präsentiert Hino Hideshi eine Horror-Adaption von Franz Kafkas Werk “Die Verwandlung”. Der Mangaka (geb. 1946), dessen Arbeit dem Horror-Genre zugerechnet wird, ist bekannt für seinen Zeichenstil, der geprägt ist von großen, mit Adern übersäten Augen, sowie von unrealistischen Körperproportionen. Gepaart mit gesellschaftskritischen Thematiken sowie den eher kindlich aussehenden Figuren, wirken die dargestellten Szenen in seinen Zeichnungen nur noch grotesker und schon surreal. Aber genau diese Art der Präsentation nutzt Hino, um das einsame Leben und die in dieser Version gezeigte Verwandlung des Hauptcharakters auf verstörende Art und Weise dem Leser näher zu bringen.
“Bug Boy” dreht sich rund um das Leben des zurückgezogenen Sanpei, der mit seinen Eltern sowie seinen zwei Geschwistern zusammenlebt. Schon früh merken seine Eltern, dass er sich eher zurückzieht und Freude an Würmern, Maden und anderen Insekten findet, was ihn schnell zum Opfer von Mobbing und Ausgrenzung durch seine Mitschüler werden lässt. Anders als seine beiden Geschwister, konzentriert er sich weniger auf die Schule, ist dort gar unaufmerksam und verkriecht sich lieber in seinem Rückzugsort: eine Müllkippe. Dort warten allerlei Tiere auf ihn, die er selbst als seine einzigen Freunde ansieht; er wünscht sich, ein Teil von ihnen zu werden. Eines schicksalhaften Abends erfährt der Leser von dem auktorialen Erzähler, dass Sanpei von einer roten, stachligen Raupe gebissen wird, die er kurz zuvor ausgespien hat. Von da an beginnt seine erste Verwandlung.
Wie auf dem Cover des deutschen Manga-Bandes (Schreiber + Leser, 2007) dargestellt, verpuppt er sich, wobei ihm Arme, Beine und Haare ausfallen und er später gänzlich zu einer Raupe wird; seine Persönlichkeit bleibt jedoch bestehen. Seine Familie erkennt ihn zunächst nicht und glaubt ein Monster hätte ihn gefressen, bis die Schwester anmerkt, dass das angebliche Monster Ähnlichkeiten mit Sanpei aufweise. Zunächst eher schlecht als recht geduldet, schmiedet die Familie schließlich einen Plan, den Jungen umzubringen, um das Ansehen der Familie zu wahren. Bis hierhin ähneln sich die Geschehnisse zu Kafkas Erzählung recht genau. Der erste Mordversuch der Familie geht unbemerkt schief und Sanpei versucht sich ein neues Leben außerhalb menschlicher Zwänge und Normen aufzubauen. Schon bald bemerkt er jedoch, dass er zunehmend vereinsamt, da selbst seine Tiere ihn nicht mehr wiedererkennen und ihn aus dem Rückzugsort verjagen.
Von allem ausgeschlossen landet Sanpei in der Kanalisation, wo er in der Zeitung liest, dass er nun als Monster bekannt geworden sei. Angetan von der Idee und angewidert von den ablehnenden Reaktionen, vollzieht er nun seine zweite Verwandlung, welche mit dem Fressen eines menschlichen Fötus einen Höhepunkt erreicht. Er entwickelt einen Stachel und ähnelt nun der Raupe, mit der alles begonnen hat. Nach dieser Verwandlung ändern sich seine charakterlichen Züge stark, da er anfängt, Menschen brutal zu ermorden und sie zu fressen – er vergisst seine Menschlichkeit. Er erinnert sich erst wieder daran, als er am Schluss einen bekannten Geruch wahrnimmt, welcher ihn zu seiner Familie zurückführt. Es folgt Kafkas berühmte “Apfelwurf-Szene”, wobei ein Gewehr den symbolischen Apfel ersetzt. Der Vater fügt ihm den Todesstoß zu, er flieht und findet sich am Ende friedlich aber sterbend im Meer treibend wieder.

Der Apfelwurf wird von Kafka als ein entscheidendes Ereignis dargestellt, wodurch Gregor Samsa realisiert, dass er nicht mehr willkommen in seiner eigenen Familie ist und sich dies auch nicht mehr ändert wird. Er empfindet es aber auch so, dass es seine Richtigkeit hat, dass es nun endlich mit ihm vorbei ist. Hinos Figur Sanpei fühlt zunächst nicht so. Nachdem er dem bekannten Geruch gefolgt ist, findet er sich vor seinem Elternhaus wieder und sieht die ganze Familie zusammen am Tisch sitzen. Diese bespricht gerade, wie sie sich am besten gegen das Monster schützen können, da sie glauben, dass Sanpei sich rächen möchte. Kaum hören sie Sanpei vor dem Fenster, schießt der Vater mit einem Gewehr auf seinen Sohn (vgl. Abb. 1), welcher mit Höllenqualen flieht. Erst danach erinnert er sich wieder, einst Mensch gewesen zu sein. Dazu schwelgt er in der “guten, alten Zeit”, in welcher er glücklich mit seiner Familie zusammengelebt hat. Dem Leser wird ein Flashback präsentiert, in dem die einzelnen Familienmitglieder als gutmütig, sanft und freundlich Sanpei gegenüber aufgezeigt werden. Ob dies der Wahrheit entspricht ist fraglich und wird auch nicht näher erläutert. Da das Gewehr ihn tödlich verwundet hat, ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um Wunschvorstellungen oder eine Verherrlichung seiner Kindheit handelt. Auch wenn die Szene abgewandelt wurde, übernimmt Hino hier deutlich die Atmosphäre der “Verwandlung”. Das Verfaulen des Apfels in Gregors Rücken wird zeichnerisch durch die Überreste von Sanpeis menschlichen Opfern sowie durch seine eigene schlechte körperliche Verfassung dargestellt. Seine Wunden entzünden sich, eitern und schlussendlich wird er von Ratten angefressen. Anders als Gregor ergibt sich Sanpei jedoch nicht seinem Schicksal, sondern nimmt seine letzte Kraft zusammen und kriecht in das strömende Wasser der Kanalisation, um sich später im Meer wiederzufinden.
Das Ende der Erzählung wird demnach größtenteils neu interpretiert, da der Manga den Schwerpunkt verschiebt. In Kafkas Verwandlung stirbt der Protagonist in seinem kleinen zugestellten Zimmer, wobei Kafka allerdings den Fokus nicht auf den Tod, sondern auf die daraus resultierende „Befreiung“ der Familie legt, welcher durch den Tod Gregors eine große Last genommen wird. Hino hingegen legt den Fokus bewusst auf den Tod Sanpeis, indem er ihm die letzten Seiten des Mangas widmet. Er gestaltet den Tod als Teil eines Zyklus, indem er seinen Charakter mit dem Meer verschmelzen lässt und nimmt ihm so die Grausamkeit, das Monsterartige. Diese Szene wird in einem Panel dargestellt, das eine komplette Seite einnimmt (vgl. Abb. 2). Der Leser sieht einen bewölkten, von Sonnenstrahlen durchbrochenen Himmel und den leblosen Körper Sanpeis, der langsam auf das Meer hinaustreibt. In dieser friedvollen und für den Manga durchaus untypischen Szene befreit sich Sanpei von seinen Schmerzen und Emotionen und kann so seinen Frieden finden. Durch diesen Stilbruch vermittelt der Manga dem Leser ein überraschendes Gefühl der Harmonie.

Mit seiner Adaption schafft Hino, damals wie heute, einen Bezug auf gesellschaftskritische Themen wie Mobbing und Leistungsdruck, weshalb der Manga auch heute noch von großer Relevanz ist und zum Lesen anregt. Mit Hinos Wahl, den jungen Schüler in seiner verwandelten Form als Raupe darzustellen, suggeriert er, im Gegensatz zu Kafka eine stärkere Entfaltungsmöglichkeit des Protagonisten – hin zu einer positiven Entwicklung. Aus diesem Grund könnte man auch davon ausgehen, dass er nach seiner Raupenform eine weitere positive Metamorphose in einen Schmetterling vollzieht. Dies wird dadurch verstärkt, dass Sanpei weitaus mehr Entscheidungsmöglichkeiten besitzt als Gregor Samsa, dessen einziger Bezug zur Außenwelt sein Fenster ist.
Obwohl der Protagonist, teils aus gesellschaftlichem Zwang und teils aus eigener Entscheidung heraus, die Verwandlung in ein augenscheinliches Monster wählt, wird der Leser doch durch das bittersüße Ende überrascht. Hino deutet zwar den Tod des Jungen an, dieser wird aber als friedvoller und schon fast paradiesischer Ausblick gedeutet, was zunächst ungewöhnlich für das Genre Horror scheint. In Kafkas Verwandlung hingegen wird die Veränderung Gregors allgemein mit dem Begriff Ungeziefer belegt, was der Leser direkt mit etwas Negativem wie einem Parasiten oder einem Schädling verbindet. Samsa selbst empfindet sein qualvolles Ende als einzig richtige Lösung, zum Wohl der Familie. Ohne die Möglichkeiten zu Außenkontakt sowie Chancen auf Veränderung in eine “bessere, schönere, nützlicheren” Form, wird ihm die Möglichkeit einer positiven Entwicklung verwehrt. Diese Art der Adaption macht Hideshi Hinos Bug Boy zu einer interessanten Alternative und ist durchaus eine Lektüre wert.
Julia Weltring und Patrick Görtsgen
Ich finde das ist ein sehr schöner Blogartilel. Die Zusammenfassung zeigt deutlich in welchen Punkten die Manga-Adaption und Kafkas Vorlage sich ähneln, aber auch in welchen Punkten sie sich deutlich unterscheiden (und welche Konsequenzen und Möglichkeit das für den weiteren Verlauf zur Folge hat).
Auch die Analyse und Interpretation des Mangas fand ich sehr interessant, insbesondere den Abschnitt dazu, dass die Verwandlung in eine Raupe in Aussicht stellt dass auch eine weitere Metamorphose zum Schmetterling hätte stattfinden können und dass das auch einen Mobbing-Bezug haben könnte. Sprich seine Verwandlung in die Raupe klingt wie eine symbolische Phase die er durchmacht. Mit Liebe und Unterstützung seiner Familie und Freunde (selbst wenn es nur die Tiere im Container gewesen wären) hätte er diese Phase überwinden und sich zu einem Schmetterling weiter entwickeln können. Die Abneigung die er durch seine Verwandlung zur Raupe erfahren hat war es erst die ihn zu dem Monster gemacht hat dass er geworden ist. Das fand ich einen sehr interessanten Gedanken.