
Kafkas Erzählung “Die Verwandlung” hat in Japan viele Fans. So ist es auch nicht verwunderlich, dass gleich mehrere Manga-Adaptionen dieses Werks erschienen sind. Wir stellen hier auf dem Blog einige davon vor. Einen recht klassischen Ansatz findet man in der Version aus der Manga-Reihe Manga de dokuha, die sich Lisa Lubs und Natalie Malocha näher angeschaut haben. Die beiden stellen fest: Die Geschichte wird hier emotionaler und lässt neue Interpretationen zu.
Dass der allseits bekannte Klassiker “Die Verwandlung” von Franz Kafka als Manga-Adaption überzeugen und sogar eine weitere Dimension der Interpretation zulassen kann, beweist das Werk Henshin 変身 (“Metamorphosis”) aus der Manga-Reihe “Manga de Dokuha” (jap. まんがで読破, dt. „Durchlesen mit Manga/Comics“). Diese Reihe des Verlags East Press hat es sich zum Ziel gesetzt, junge japanische Leser/innen an klassische literarische Werke heranzuführen. Konzipiert werden die Manga von Maruo Kôsuke, während sie vom Künstlerkollektiv Variety Art Works gezeichnet werden. Umgesetzt wurden neben Kafkas „Die Verwandlung“ (1915) u.a. „Ningen Shikkaku“, „Das Kapital“, „Krieg und Frieden“, aber auch kontroverse Werke wie „Mein Kampf“. Die Kafka-Adaption ist nur auf Japanisch erschienen, es gibt aber eine englische Scanlation (Fan-Übersetzung) des Werks, die wir hier als Grundlage genommen haben.
In Kafkas Ursprungswerk wird die Geschichte von Gregor Samsa erzählt, der aus ungeklärten Gründen eines Morgens in seinem Bett aufwacht und merkt, dass er sich in ein Insekt verwandelt hat. Zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester Grete in einer Wohnung in Prag lebend, sind die Familienverhältnisse von Abhängigkeit und finanziellen Nöten geprägt. Gregor ist Reisender und Tuchhändler, der Alleinverdiener der Familie und versucht, mit seinem Einkommen die Schulden seines bankrott gegangenen Vaters zu begleichen. Da es für Gregor nach seiner Verwandlung unmöglich ist zu arbeiten, wird er zunächst von Schuldgefühlen gegenüber seiner Familie geplagt und lehnt seine neue Ungeziefergestalt vehement ab. Grete, die sich fortan um Gregor kümmert, beschließt zusammen mit der Mutter, Gregors Zimmer auszuräumen, um ihm mehr Bewegungsfreiheit zu schaffen. Jedoch fällt seine Mutter beim Anblick von Gregors Käfergestalt in Ohnmacht. Daraufhin wird Gregor von seinem aufbrausenden Vater attackiert und von einem geworfenen Apfel schwer verletzt. Der Vorfall hinterlässt bei Gregor nicht nur physische, sondern auch psychische Spuren.
Er verbringt die Tage abgeschottet in seinem Zimmer, während die Familie ihre einstige Abhängigkeit mehr und mehr hinter sich lässt und beginnt, sich selbst zu versorgen. Aus diesem Grund wird Gregor immer mehr vernachlässigt und seine Pflege zunehmend als Last empfunden. Als der einsame Gregor eines Abends, vom Geigenspiel seiner Schwester angezogen, sein Zimmer verlässt, kommt es zum Eklat. Gregor wird von den neu eingezogenen Untermietern gesehen, welche daraufhin umgehend ihr Verhältnis mit der Familie aufkündigen. Daraufhin fällt Grete den Entschluss, dass das Ungeziefer, in dem sie nicht mehr ihren Bruder erkennt, beseitigt werden muss. Jeden Lebenswillen verloren verkriecht sich Gregor darauf in seinem Zimmer, bricht entkräftet auf dem Boden zusammen und stirbt. Währenddessen wagt die Familie einen Neuanfang und fasst das Ziel, die Schwester zum Hauptaugenmerk ihres Wohlstands zu machen. Die Familie zeigt sich angesichts von Gregors Tod erleichtert, verbringt einen freien Tag und blickt hoffnungsvoll in eine neue Zukunft.
Die Manga-Adaption hält sich weitestgehend an die Originalvorlage, schafft es aber, die recht kurze Erzählung von Kafka auszuschmücken und eine komplexere Geschichte zu erzählen, die auch die Sicht der Familienmitglieder nicht außer Acht lässt und einen interessanten Blickwinkel ermöglicht. Anders als das Ursprungswerk ist der Manga in fünf Abschnitte unterteilt und nicht in drei Kapitel. Gregors Zeit vor der Verwandlung wird stärker thematisiert und nimmt nahezu die Hälfte des Mangas ein. Sein Aufstieg aber auch seine Probleme in der Arbeitswelt werden darin ausgearbeitet, sowie die Entwicklung einer Liebesgeschichte mit dem Mädchen Milena, die in der Erzählung Kafkas in der Form nicht auftaucht. Milena gibt der Geschichte einen Hoffnungsschimmer bzw. stellt Gregor vor eine Wahl: Er könnte es für sie wagen, sich aus seinen Zwängen zu befreien und ein neues Leben zu beginnen, losgelöst von seiner Familie. Diese Chance ergreift er allerdings nicht – aus Angst, sich vor seiner selbst auferlegten Verantwortung zu drücken.

Innerhalb einer Rückblende wird hier eine spannende Metapher eingesetzt, die diese selbstauferlegte Identität Gregors in der Adaption visuell untermalt (Abb. 2). Milena erwähnt den “Butterfly Dream”, eine alte Sage über einen chinesischen Mann, der einst träumte, er führe das Leben eines Schmetterlings, und sobald er aufwachte, wieder das eines Menschen. Dabei wird das Prinzip von Scheinrealitäten und Traumwelten aufgegriffen, da Melina die Frage aufwirft, ob es nicht eigentlich der Schmetterling sei, der das Leben eines Menschen geführt habe. Es folgt im Manga neben dem erschreckten Gesichts Gregors ein direkter Sprung zu dem Auffinden seiner Leiche als Käfer vor den Augen seiner Familie – obwohl zuvor bereits seine Leiche in menschlicher Form auf dem Boden liegend zu sehen war. Somit erübrigt sich eine Interpretationsebene, die es zu Kafkas Werk so schon von vielen Seiten gegeben hat, aber hier nochmal genau vom Zeichenstudio visualisiert wurde: Gregor war schon immer ein Käfer gewesen. Was man hier sieht, ist seine wahre Form, entmenschlicht durch die Arbeit im Dienst der Familie, als Opfer eines Betrugs.
Die Käfergestalt Gregors ist somit Symbol seiner Unterdrückung, die von allen Seiten permanent auf ihn einschlägt. Sowohl auf der Arbeit als auch zu Hause von seinem Vater, wird Gregor nur als Untergebener wahrgenommen, als wäre er eben nicht mehr als ein Käfer. Die Adaption verdeutlicht diese Situation zusätzlich mit einer Traumsequenz, in der Gregor sich schwer arbeitend auf einem Schiff wiederfindet und von seinem Vorgesetzten, der seinem Vater ähnelt, gezwungen wird ohne Pause zu arbeiten. Als er aus diesem Alptraum erwacht, beginnt seine Verwandlung in den Käfer. Im Unterschied zum Roman verläuft Gregors Verwandlung in der Adaption schrittweise (vgl. Abb. 1) und erst am Ende ist seine Käfergestalt vollends sichtbar. Seine Verwandlung ist erst dann abgeschlossen, als seine Familie ihn nicht mehr als Familienmitglied akzeptiert und er nur noch als lästiges Ungeziefer wahrgenommen wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Manga-Adaption ihrem Anspruch gerecht wird. Das Werk schafft es, viele Interpretationen von Kafkas Erzählung logisch aufzuschlüsseln und auch für junge Leute verständlich zu machen. Außerdem schafft der Manga eine sehr viel emotionalere Darstellung. Während die Novelle in trockenem Realismus Gregors Schicksal wiedergibt, baut der Manga eine Beziehung zwischen Leser und Protagonist auf. Gregors Arbeitsleben, seine Unterdrückung aber auch seine Glücksmomente mit Milena werden ausführlich vorgestellt, und der Leser beginnt Mitgefühl für ihn zu empfinden. Gleichzeitig wird Gregors Käfergestalt, bei der Kafka bewusst eher vage bleibt, erschreckend und ungeschönt dargestellt. Dadurch entsteht auch ein gewisses Verständnis für die Familie, die sich mit diesem Wesen konfrontiert sieht.
Die Adaption zu lesen war eine spannende Erfahrung, da man sowohl einen klareren Blick auf Kafkas Werk bekommt, aber auch neue Facetten entdecken kann. Durch die emotionalere Darstellung wird die Adaption sehr viel tragischer wahrgenommen als die Novelle. Das für die zurückgebliebene Familie positive Ende wird im Manga nur angeschnitten und der Fokus liegt eher auf Gregors einsamem Tod.
Lisa Lubs und Natalie Malocha