Verstörend wie eh und je: Ningen Shikkaku im digitalen Zeitalter

Wie würde die Geschichte von Ôba Yôzô wohl heute verlaufen? Margarethe Betz stellt hier eine Manga-Adaption von Dazai Osamus Ningen Shikkaku vor, die der bekannte Mangaka Furuya Usamaru umgesetzt hat. Der Protagonist veröffentlicht hier seine Lebensbeichte als Blogartikel, und auch sonst ist die Geschichte in der Jetzt-Zeit angekommen. Von ihrem Potential, Leser/innen zu verstören, hat sie dabei nichts verloren. 

Dazai Osamu ist einer der bedeutsamsten Autoren der modernen japanischen Literatur. Sein wohl bekanntestes Werk ist der shishôsetsu („Ich-Roman“) Ningen shikkaku (deutsch: „Gezeichnet“, 1948), welcher das von Verlorenheit und Schuldgefühlen geprägte Leben eines jungen Mannes schildert. Im Laufe der Jahre wurde das Werk mehrfach in verschiedenen Medien adaptiert. Eine solche Adaption wurde Ende der 2000er von dem Mangaka Furuya Usamaru angefertigt und wurde unter dem gleichen Titel wie seine literarische Vorlage (Ningen shikkaku, im Englischen auch No longer human) von 2009 bis 2011 durch den Verlag Shinchôsha publiziert. Der Manga erschien zunächst in der Zeitschrift Weekly Comic Bunch, wurde aber dann, nachdem diese nach der Veröffentlichung ihres letzten Exemplars im Herbst 2010 eingestellt wurde, von Monthly Comics @Bunch übernommen. Beide Zeitschriften richteten sich primär an eine seinen-Zielgruppe, also an eine erwachsene männliche Leserschaft. Er wurde anschließend in drei Sammelbänden veröffentlicht und wenig später durch den Verlag Vertical ins Englische übersetzt. Für diese Übersetzung wurde eine gespiegelte Version der Adaption angefertigt, welche sich von links nach rechts liest und nicht, wie es sonst bei Manga üblich ist, von rechts nach links. Interessanterweise erschien der erste gebundene Band der Reihe ungefähr zum 100. Geburtstag von Dazai Osamu. 

Abb. 1: Band 2, S. 4

Das Besondere an Furuyas Ningen shikkaku ist, dass hier, während das Original hauptsächlich in der Shôwa-Zeit spielt, das Geschehen in die Gegenwart versetzt wurde. Die Figuren tragen moderne Kleidung, es fallen Begriffe aus der Populärkultur wie „Idol“ (aidoru), Ôba Yôzô, der Protagonist der Geschichte, wird Mangaka und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise der 2000er Jahre werden angesprochen. Auch ein Motiv aus Fernsehen, Film und Manga taucht auf: Das Ausziehen der Schuhe vor dem Suizid. So sind es nicht Yôzôs Umhang und Agehas (Tsuneko im Original) Kimonogürtel, die sie vor ihrem Selbstmordversuch ablegen, sondern sie lassen lediglich ihre Schuhe am Strand zurück. Yôzôs Aufzeichnungen werden auch, anders als in der Vorlage, dem Rahmenerzähler nicht durch die Wirtin aus Kyôbashi übergeben, sondern dieser stößt durch Zufall online auf den Blog des Protagonisten (vgl. Abb. 1).

Sowohl der Manga als auch der shishôsetsu sind in drei Teile gegliedert. Es besteht jedoch ein erheblicher Unterschied darin, welche Aspekte aus Yôzôs Leben in diesen jeweils geschildert werden. Während Dazais Version in Kindheit, Jugend und sein Leben nach seinem Suizidversuch mit Tsuneko aufgeteilt ist, lässt Furuyas Adaption Kindheitsjahre und Mittelstufenzeit aus und steigt mit der Erzählung gleich bei dem in Tokyo lebenden Oberstufenschüler Yôzô ein. So legt die Adaption einen noch stärkeren Fokus auf sein Leben als junger Erwachsener und auf seine Beziehung zu Yoshino (in Dazais Version Yoshiko). Die Figuren, wie die Wirtin oder Yoshinos Vergewaltiger (welcher hier Fukawa heißt und als Redakteur des Protagonisten tätig ist), werden stärker charakterisiert und sind nicht mehr bloß Mittel, die einen einmaligen Zweck in der Geschichte erfüllen, sondern werden zu eigenständigen Persönlichkeiten. Der gescheiterte Suizidversuch und das glückliche Eheleben Yôzôs und Yoshinos haben in dieser Adaption, durch ihre Platzierung an Ende des ersten und am Anfang des dritten Bandes, nochmal eine andere Wirkung auf den Leser als im shishôsetsu.

Wie im Ausschnitt (Abb. 1)  schon zu erkennen ist, ist der Rahmenerzähler in Fuyuras Werk eine andere Person als in Dazais Version. In der Manga-Adaption ist es kein namenloser Schriftsteller, der durch Zufall an die Aufzeichnungen Yôzôs gelangt, sondern es ist der Mangaka selbst, Furuya Usamaru. Er findet die Blogeinträge bei der Suche nach Material für seinen neuen Manga, liest sie und begibt sich anschließend auf die Suche nach Yôzô. Dies könnte mit Furuyas eigener, besondere Beziehung zu Dazai Osamus Werk zu tun haben. So schreibt er im Nachwort des letzten Bandes der Reihe, dass Dazais Ningen shikkaku ihn als Oberstufenschüler sehr berührt habe. Obwohl er und Ôba Yôzô und ihre beiden Leben sehr unterschiedlich sind, konnte er sich doch sehr gut mit ihm, seiner Angst vor anderen Menschen und dem Gefühl „nicht menschlich“ zu sein, identifizieren. Im Manga gibt es immer wieder Seiten, die Furuya zeigen, wie er an seinem Computer das Online-Tagebuch liest. Diese fungieren nicht nur als Einleitungen der einzelnen Bände, sie ermöglichen es dem Leser auch, einen tieferen Einblick in die Gedanken des Mangaka zu bekommen. Zusätzlich erfährt der Leser durch Furuyas Äußerungen möglicherweise eine Bestätigung seiner eigenen Gedanken – wie zum Beispiel, dass Yôzôs Geschichte zu dramatisch scheint, um glaubwürdig zu sein. Eine solche Unterbrechung macht der Manga aufgrund seiner Struktur möglich, ohne dass der Lesefluss negativ beeinflusst wird, anders als es womöglich im shishôsetsu der Fall gewesen wäre.

In der Manga-Reihe werden Ôba Yôzôs Gefühle auf eine sehr faszinierende Art und Weise dargestellt. Zum Beispiel werden die Aussagen über seine Angst gegenüber seinen Mitmenschen mit Zeichnungen verwischter Gesichter unterstützt. Sein negatives Verhältnis zum Vater, der trotz seiner Abwesenheit eine immerwährende Präsenz in Yôzôs Leben ist und von dem er sich stark beeinflusst fühlt, wird durch das Bild einer an Fäden hängenden, fremdgesteuerten, augenlosen Marionette verdeutlicht. Dies kann man sehr gut im „spread panel“ unten erkennen (Abb. 2). Durch das Fehlen von Augen bei der Marionette bekommt man das Gefühl, dass es sich hier um eine seelenlose, leere Hülle handelt. Dies ist nicht Yôzô der Mensch, sondern Yôzô der Clown, die Marionette seines Vaters, der ihn von seiner Geburt an sein ganzes Leben lang manipuliert und dem er sich hilflos ausgeliefert fühlt. Diese Assoziation wird dem Leser recht früh im Manga vermittelt und ist etwas, das sich durch alle drei Bände hindurchzieht. So spielt hier in der Adaption die Beziehung zu seinem Vater eine entscheidendere Rolle für den schlussendlichen Verfall des Lebens des Protagonisten.

Abb. 2: Band 1, S. 18–19

Wie bereits erwähnt, bietet das Medium des Mangas sehr viel Spielraum, wenn es um die Visualisierung von Dazais Werk geht. Nicht nur die Gefühle Yôzôs können bildlich dargestellt werden, es ist auch möglich, verstörende Szenen, die im Buch bloß angeschnitten werden, in all ihren Details zu zeigen. So wird hier den Halluzinationen, unter denen der Protagonist durch seine Sucht leidet, besondere Aufmerksamkeit zuteil. Der Leser wird mit stetig erschreckenderen und unangenehmeren Bildern von dem, was der Protagonist in seinem Rausch wahrnimmt, konfrontiert. Solche vom Mangaka kreierten Szenen führen nicht nur dazu, dass einem die Figuren mit der Zeit anfangen leid zu tun, sondern lässt die ganze Erzählung auch noch verstörender wirken als die Vorlage selbst.

Abschließend sei gesagt, dass Furuya Usamarus No longer human eine außergewöhnlich interessante Adaption und auf jeden Fall wirklich sehr lesenswert ist!

Margarethe Betz

Ein Gedanke zu „Verstörend wie eh und je: Ningen Shikkaku im digitalen Zeitalter

  1. Furuya schlägt einen durchaus interessanten Weg ein mit seiner Adaption von Ningen Shikkaku. Es wird gezeigt, dass sich klassiche Literatur mit kleinen Modifikationen in die Gegenwart holen lässt, und so inhaltlich weiterhin relevant bleibt. Mit dem Aufbau der Erzählung bleibt der Mangaka doch überraschend nah am Original. In beiden Versionen tritt ein externer Erzähler auf, der in Besitz der Tagebücher Yôzô’s kommt und deren Inhalt für den Leser wiedergibt. In der Manga Adaption tritt Furuya selber als dieser Erzähler auf, und nimmt damit Rückbezug auf die ursprüngliche Gattung des shishôsetsu. Auch die Kommentar Textboxen Yôzô’s, gekennzeichnet durch ihre Gestaltung von weißer Schrift auf schwarzem Hintergrund. Eine für Manga eher untypische typographische Entscheidung, die hier jedoch erneut den Gattungsbezug unterstreicht.

    Die interne Fokalisierung so wie Schüwer sie beschreibt, ist in meinen Augen in dieser Adaption gelungen, solange wir uns innerhalb der Blogartikel/Tagebucheinträgen befinden. Die Form wird dadruch gebrochen, dass der Mangaka während seiner „Recherchen“ immer wieder Bezug zum Geschehen nimmt und es in Frage stellt. An dieser Stelle wird die Fokalisierung nahezu komplett aufgehoben.

    Der oben stehende Blogartikel ist gut geschrieben und lässt sich flüssig lesen. Er bietet einen umfassenden Überblick über die Adaption, ihre technische Umsetzung und wie Furuya seine eigenen Beziehungen zu Ningen Shikkaku und Dazai in den Manga hat einfließen lassen können.

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