Adaptionen moderner japanischer Literatur stehen im Mittelpunkt einer Serie, die wir hier im Sommersemester 2020 veröffentlichen. In diesem ersten Beitrag geht es um die Manga-Serie “The Times of Botchan”, die aus der Feder des berühmten Zeichners Taniguchi Jirô (1947–2017) stammt und 1998 den Tezuka-Osamu-Kulturpreis gewonnen hat. Lisa Weinert und Hasan Acur widmen sich diesem Werk, in dem eine emanzipierte Version von Mori Ôgais Maihime („Die Tänzerin“, 1890) auftritt.
In diesem Artikel stellen wir die Manga-Serie “The Times of Botchan” (Botchan no Jidai) vor, die von 1987 bis 1996 von dem Autor Sekikawa Natsuo und dem Manga-Zeichner Taniguchi Jirô in der Zeitschrift „Manga Action“ veröffentlich wurde. Das Werk wurde später ins Englische, Italienische, Spanische und Französische übersetzt. Die englische Version ist im Verlag Ponent Mon erschienen. Der Manga erzählt von dem japanischen Autor Natsume Sōseki, der in der Meiji-Zeit sein Werk Botchan (1906) geschrieben hat, und enthält auch eine Episode über Mori Ôgais Erzählung Maihime unter dem Titel Aki no maihime („Autumn’s ballerina“, erschienen 1989). Die Meiji-Zeit in Japan war eine Zeit der großen Veränderungen. Nach der Öffnung des Landes wollte man modern werden und zu den westlichen Ländern aufschließen. Zugleich stellte sich die Frage, wie man japanischen Traditionen treu bleiben kann. In der Manga-Serie geht es um diese zentralen Konflikte der Meiji-Zeit, und es werden viele kleinere Geschichten erzählt, die insgesamt ein breites Panorama auf diese Zeit bieten. Dazu gehört auch die Erzählung rund um Maihime, die in diesem Manga adaptiert wird.
Der Manga beginnt in Band eins mit einem Einblick in das Leben von Natsume Sôseki, einer der größten Autoren seiner Zeit, der zu diesem Zeitpunkt gerade an seinem Werk Botchan arbeitet. Wir stellen hier Band drei und vier der englischen Manga-Ausgabe vor, die sich der Adaption von Mori Ôgais Erzählung Maihime unter dem Titel „Autumn’s ballerina“ widmen. Im Originalwerk Maihime (1890) geht es um einen japanischen Autor, der für einige Jahre in Deutschland studiert und dort eine deutsche Tänzerin kennenlernt. Die beiden verlieben sich und werden mit der Zeit ein Paar, was in Anbetracht der Zeit zu einigen Konflikten führt. Das Werk soll autobiografisch sein und von dem Leben des Autors Mori Ôgai (geboren Mori Rintarô) selbst erzählen, der Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls für ein Studium in Deutschland war.
Zu Beginn des dritten Manga-Bandes findet die Beerdigung von Hasegawa Tatsunosuke statt, welcher ein bekannter Schriftsteller und erster japanischer Übersetzer russischer Literatur war. Bekannter ist dieser Autor heute unter seinem Künstlernamen Futabatei Shimei. Nach dieser Beerdigung geht die Geschichte langsam zu Mori Ôgai über, der von seiner Zeit in Deutschland erzählt und somit die Geschehnisse aus Maihime schildert. Der zunächst auffälligste Unterschied dieser Adaption ist der Name des Protagonisten: während im Originalwerk die Rede von Ôta Toyotarô ist, wird im Manga der Protagonist mit dem echten Namen des Autors, Mori Rintarô, benannt. Der nächste auffällige Unterschied ist die Erzählstruktur im Manga. Im Gegensatz zur Originalerzählung, welche durch die Erzählstruktur den Leser dauerhaft an den Protagonisten bindet und keine Einblicke in Geschehnisse lässt, bei welchen er selbst nicht anwesend ist, wird der Manga aus der Sicht einer dritten Person erzählt. So ist die Manga-Adaption nicht nur detailreicher, sie zeigt zudem auch die Erlebnisse verschiedenster Charaktere, von denen viele ebenfalls bedeutende Autoren der Meiji-Zeit sind, beispielsweise der zu Beginn des dritten Bandes verstorbene Futabatei (bzw. Hasegawa).
Auch der Verlauf der Geschichte unterscheidet sich vom Originalwerk, was zum einen Raum für die Erlebnisse der Nebencharaktere gibt und zum anderen auch dem Charakter der Elise mehr Zeit gibt, aktiv in der Geschichte zu handeln. So lässt der Protagonist sie nicht schwanger und dem Wahnsinn verfallen in Deutschland zurück, sondern bittet sie, ihn nach Japan zu begleiten und ihn dort zu heiraten. So umfasst der Manga zusätzlich die 36 Tage, welche auch die historische Elise – Mori Ôgais deutsche Freundin – in Japan verbracht haben soll.
Durch diese veränderte Erzählung und die Sichtweise aus der dritten Person erhält Elise deutlich mehr Tiefe als noch im Originalwerk. Wurde sie dort kaum bis gar nicht charakterisiert, und die meiste Zeit lediglich durch ihre Schönheit und ihre Gefühle dem Protagonisten gegenüber dargestellt, sind im Manga stärkere Charakterzüge vertreten, welche ihr ein eigenes Wesen verleihen: Sie ist willensstark, klug und zielstrebig. Der Protagonist nimmt sie als zwar ungebildet, jedoch wissbegierig wahr, und unterrichtet sie in Deutsch und Französisch. In ihrer Zeit in Japan handelt sie aktiv, hinterfragt die veralteten Strukturen und Traditionen und setzt sich dem entgegen, was sie als ungerecht wahrnimmt. Sie widerspricht dem japanischen Verständnis von Familie und Idividuum sowie Nationalstolz und Status, aus welchem heraus Rintarô auf Anraten seiner Familie sie nicht wie versprochen heiraten kann. An einer Stelle macht sie sogar von einer Schusswaffe Gebrauch, um Freunde zu retten, die ins Zentrum eines Konfliktes geraten sind. Wie eine Action-Heldin wird sie hier in dynamisch angeordneten Panels gezeigt, die Pistole in Richtung des Lesers gerichtet. Dieses Bild steht ganz im Gegensatz zu der Elise, die wir aus der Mori Ôgais Erzählung kennen.

Eine Schwangerschaft von Elise wird im Manga nie erwähnt. Auch gewinnt man hier im Gegensatz zum Originalwerk nicht den Eindruck, dass Elises einziger Lebenssinn ihre Liebe ist. Während sie im Original dem Wahnsinn verfällt, als sie erfährt, dass Toyotarô sie zurücklassen und nach Japan gehen wird, sucht sie in der Manga-Adaption die Konfrontation mit ihrem Geliebten und kehrt nach Deutschland zurück, als ihr bewusst wird, dass er sein Leben nach dem Willen seiner Familie ausrichten wird. Sowohl im Original als auch im Manga ist der Protagonist nicht fähig, eigene Entscheidungen zu treffen und richtet sich nach dem, was ihm höher gestellte Personen verlangen. Durch ihn wird ein grundlegender Konflikt der Meiji-Zeit verstärkt dargestellt: sein Wunsch, seiner Familie und seinem Land gerecht zu werden und seine Pflicht zu erfüllen steht im starken Kontrast zu seinen Gefühlen für Elise, welche als ausländische Frau wie eine Darstellung des Westens wirkt, der immer stärkeren Einfluss auf Japan nimmt und scheinbar droht, die Kultur zu verdrängen. Somit entschließt er sich, dem Wunsch seiner Eltern nachzukommen und die von ihnen ausgewählte Frau zu heiraten, welche durch die Rolle ihres Vaters ein hohes gesellschaftliches Ansehen genießt.
Während das Ende der Originalgeschichte nur lose beschreibt, wie der Protagonist sich trotz seiner baldigen Vaterschaft dazu entschließt, sowohl sein Kind als auch Elise, die in ihrer psychischen Verfassung nicht alleine für das Kind sorgen können wird, zurückzulassen und nicht weiter darauf eingeht, was danach geschieht oder was die anderen Charaktere denken oder fühlen, endet der Maihime-Abschnitt im Manga mit einem abschließenden Blick auf alle zentralen Figuren der Episode. Für jede dieser Figuren wird kurz umrissen, was nach der Erzählung mit ihr geschah, jedoch nicht für Elise. Ihr weiteres Leben wird als Mysterium beschrieben, und sie wird beinahe so dargestellt, als würde sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland in dieser schnellen und modernen Zeit untergehen.
Lisa Weinert und Hasan Acur
Aki no Maihime wirkt wie eine ganz andere Geschichte als Maihime von Mori Ôgai. In dieser Adaption geht es nicht nur um die Beziehung von Elise/Lise und Rintarô, sondern die beiden stehen repräsentativ für den Westen und Japan. Der Konflikt ist nun mehr als nur die innerliche Zerrissenheit des Protagonisten, es geht darum, ob und wie weit sich Japan in der Meiji Zeit „verwestlichen“ soll. Zunächst wird hier die Strategie der Kritik angewendet. Während im Originalwerk die Konflikte und Probleme Japans während der Meiji Zeit nicht beschrieben werden, wird hier sowohl das Verhältnis Japans mit dem Westen thematisiert, als auch die allgemeine Auffassung der westlichen Mächte von Japan, so wie der Rassismus, welchem Japaner seitens der Europäer ausgesetzt waren. Zusätzlich bedienen sich Autor und Mangaka der Strategie der Extrapolation. Der Konflikt, der im Ôgais Werk sein Ende in Deutschland findet, wird hier in Japan weiter geschrieben. Figuren, welche in Maihime nicht vorzufinden waren, werden ergänzt. Dies geschieht um Japan selbst, die Unterschiede und das Verhältnis zum Westen darzustellen. Hierzu wird auch die Strategie der Selektion angewendet. Aspekte wie zum Beispiel Elises Zusammenbruch und der Verlust von Toyotarôs/Rintarôs Stipendium werden ausgelassen, selbst Rintarôs Karriere ist für diese Adaption abgewandelt worden, damit man schneller und leichter das Geschehen nach Japan verlagern kann. Es wird auch die Strategie der Konkretisierung angewendet. Die Meinungen von Rintarôs Familie zu seiner Beziehung mit Elise/Lise, welche im Original bloß Andeutungen erfährt oder gar ganz der Fantasie des Lesers überlassen wird, wird in Aki no Maihime klar deutlich. Während es in Ôgais Werk sein Freund Aizawa ist, welcher dem Protagonisten von seiner Beziehung abrät, ist es hier eher die Familie, welche sich dieser entgegenstellt. In dieser Situation steht die Familie Rintarôs repräsentativ für die traditionelle Sichtweise, welche sich gegen eine Verwestlichung Japans ausspricht.
Der Wechsel von Literatur zu Manga bringt viele Veränderungen mit sich. Während in einem literarischen Werk Gedanken und Gefühle stark und ausschweifend beschrieben werden können, wird im Medium des Manga auf eine gute Balance zwischen Zeichnungen und Text geachtet – wobei die Zeichnungen oft im Vordergrund stehen und weniger Text bevorzugt wird. Zunächst hat dies einen großen Einfluss auf die Schönheit von Elise/Lise, welche im Manga nicht beschrieben, sondern gezeigt werden muss und durch Kommentare der andere Personen noch einmal verdeutlicht wird. Zusätzlich werden in dieser Adaption nun auch sehr viele Gedanken, welche der Protagonist hat und Konflikte, welche er beschreibt, direkt gezeigt und in Form von Dialogen dargestellt. Es wird weniger stark von Raffungen Gebrauch gemacht und es gibt mehr Isochronien. Durch die Gliederung des Manga in einzelne Kapitel – im Gegensatz zu dem Originaltext, welcher von so einer Gliederung absieht -, ist die Gestaltung des Ort- und Zeitwechsels wesentlich einfacher, da neue Orte und Zeiten zu Beginn jedes neuen Kapitels durch einen kurzen Verweis eingeleitet werden können. Hierdurch werden Zeitsprünge begünstigt und es kommt zu mehr Analepsen.
Abschließend würde ich noch gerne den Blogartikel selbst kommentieren.
Der Blogeintrag ist wirklich gut geworden. Er ist gut gegliedert, lässt sich gut lesen und war für mich, als ich ihn das erste Mal gelesen hatte, bevor ich mich mit dem Manga auseinander gesetzt hatte, sehr verständlich. Vor allem die Überschrift fand ich besonders ansprechend!
Erstmal ein großes Lob an die Autoren des Beitrages:
Ihr habt schön herausgestellt, wie sich besonders die Erzählweise des Mangas im Vergleich zum Original verändert hat, welche einerseites durch den Wechsel des Mediums bedingt ist, aber auch durch die (medial erzwungene) Nutzung eines auktorialen Erzählers. Sehr spannend ist auch der Bezug auf Elise und ihre Rolle alf Figur im Manga, der Titel ist hier mehr als nur treffend gewählt. Ich finde es sehr spannend, wie der Konflikt Japan/Tradition und der Westen/Moderne aufgegriffen wird, das habt ihr wirklich sehr gut herausgearbeitet.
Außerdem konnte man den Text wirklich sehr gut lesen, großes Plus dafür! 🙂
Autor und Mangaka haben sich hier den vollzogenen Medienwechsel von literarischer Erzählung hin zum Manga zu Nutzen gemacht. Ihnen ist es gelungen, aus der melancholischen Erzählung eines Reisetagebuches, die den Leser in das Innere der Figur Ôda Toyotomi zieht, eine spannende, gesellschaftskritische Version des Originals zu entwicklen und zu veröffentlichen. Ausschlaggebend ist dafür meiner Meinung nach der Wechsel des Erzählers. Im Original treffen wir auf Toyotomi als Protagonist der Geschichte, der gleichzeitig Erzähler ist. Dadurch bekommen wir eine stark gefilterte Version von maihime zu lesen, die an manchen Stellen kritisch hinterfragt sein sollte.
Im Medium der Manga ist es grundsätzlich schwierig, einen autodiegetischen Erzähler darzustellen, das geben die Eigenschaften des Medium einfach nicht her. Ich finde jedoch, gerade durch die Tatsache, dass der Manga einen auktorialen Erzähler hat, dieser besonders spannend und lesenswert ist. Aki no maihime geht als Adaption sogar noch einen Schritt weiter, und verknüpft die autobiographische Vorlage von Mori Ôgais Deutschlandreise mit seiner Erzählung von Maihime. In dieser Adaption ist also nicht 100% klar, welche Informationen nun aus der Erzählung, oder aber aus dem Leben Ôgais stammen. Jedoch sorgt diese stilistische Entscheidung dafür, dass die Erzählung im Manga lebendig wird, wir die Motive anderer Figuren, insbesondere Elises, kennenlernen und mit einem neutraleren Filter auf die Konflikte der damaligen Zeit in Berlin, vor allem aber im Japan der Meiji Zeit gestoßen werden.