
Ist es in Ordnung, den Lieblingsmanga kostenlos im Internet zu lesen? Nachdem wir bereits über mögliche legale Alternativen zu Scanlations (Fanübersetzungen von Manga) berichtet haben, widmen sich hier nun Kilian Brand und Philipp Eckershoff noch einmal ausführlich der moralischen Seite der Problematik.
Außerhalb Japans sind Scanlations für viele Manga-Fans und Japanenthusiasten einer der wichtigsten Kontaktpunkte zu Neuheiten auf dem Mangamarkt. Das rührt daher, dass der größte Teil der Mangaproduktion auf den japanischen Markt abzielt und viele Werke niemals außerhalb der Landesgrenzen lizensiert und veröffentlicht werden. In den meisten Fällen gibt es auch kaum Exporte. Damit stellen Scanlations oft den einzigen Weg für Leserinnen und Leser dar, die keinen Zugriff auf den japanischen Markt haben oder denen die nötigen sprachlichen Fähigkeiten fehlen, diese Werke lesen zu können.
Doch was genau sind Scanlations? Es handelt sich hierbei um nicht-kommerzielle Übersetzungen japanischer Manga in andere Sprachen, angefertigt durch Fangruppen. Dabei werden Seiten der Originalmanga eingescannt und digital überarbeitet. Es stecken aufwändige Arbeitsschritte hinter dem Ganzen und es haben sich aus dem Grund eine Vielzahl von Gruppen gebildet, die teilweise auf einem nahezu professionellen Level arbeiten. Für viele solcher Übersetzer handelt es sich um Projekte aus Leidenschaft. Ziel ist es nicht nur, Manga außerhalb Japans verfügbar zu machen, sondern oftmals auch das Interesse von Fangemeinschaften außerhalb Japans zu wecken und damit Verlage zu einer möglichen lizensierten Übersetzung zu motivieren. So kündigen einige Übersetzergruppen an, ihre Projekte zu beenden, sobald dieses Ziel erreicht wird. Es ist jedoch nicht immer gewährleistet, dass dies auch geschieht.
Während es so für viele Fans sehr praktisch ist und möglicherweise auch noble Absichten hinter den Übersetzungsarbeiten stecken, ergeben sich daraus eine Reihe von rechtlichen wie auch moralischen Schwierigkeiten sowie wirtschaftliche Einbußen.
Der Manga-Markt
Manga machen circa 75% des gesamten Comic-Umsatzes in Deutschland aus und trotzdem greift ein Großteil der Fans immer noch zu Scanlations. Grund dafür ist die beschränkte Verfügbarkeit. So ist es vorprogrammiert, dass viele Titel nie auf dem deutschen Markt landen werden. Darunter gehören z.B. One-Shots, kürzere Geschichten die meistens nur 15-60 Seiten umfassen und somit nur in Manga-Magazinen veröffentlicht werden. Aber auch Nischen-Manga, welche sich ausschließlich an eine kleine Minderheit richten und sich deswegen nie auf dem ausländischen Markt behaupten könnten. Auch Verlage, die sich auf Manga spezialisiert haben, werden der Nachfrage der Fans oft nicht gerecht. Dabei ist vielen nicht bewusst, dass es Monate, ja sogar Jahre dauern kann, bis man die nötigen Lizenzen hat. Doch angesichts der schieren Menge an Veröffentlichungen in Japan ist es nahezu unmöglich genau abzuschätzen, welche Manga im deutschen Raum Anklang finden werden. Mittlerweile begreifen glücklicherweise immer mehr japanische Firmen das Potential von Manga im Ausland und Verlage wie Shueisha oder KADOKAWA haben Apps entwickelt, mit denen man Mangas online erwerben und in anderen Sprachen lesen kann (siehe auch unseren Artikel zu Scanlation-Alternativen). Leider ist diese Entwicklung sehr neu, und kommt nach Jahren des Missbrauchs durch Seiten wie z.B. MangaRock oder andere Plattformen, auf denen Scanlations veröffentlicht werden, sehr spät.
Negativbeispiel Crunchyroll
Doch auch westliche Firmen versuchen schon seit längerem Fuß zu fassen, um eine vernünftige Plattform zu kreieren, jedoch größtenteils ohne Erfolg. Ein gutes Beispiel aus dem Anime-Bereich ist Crunchyroll, ein Streaming-Service, der Fans die Möglichkeit geben soll, legal und on-demand die neuesten Folgen ihrer Lieblings-Anime zu schauen. Als einer der größten Streaming-Services verspricht Crunchyroll schon seit langem, die Bedingungen für Übersetzer/innen und den globalen Markt zu verbessern, doch stattdessen entschied sich der Konzern letztens dazu, ein neues, extravagantes Büro zu errichten. Dies führte zu einem gewaltigen Aufschrei, denn besonders in der Anime-Community ist es allgemein bekannt, dass Crunchyroll seine Übersetzer/innen nicht gerecht für ihre Arbeit entlohnt. Dies spiegelt sich auch in den Übersetzungen wider, welche dafür bekannt sind, von minderer Qualität zu sein. Seit Jahren beschweren sich Fans darüber, dass sogar Fansubs (Fan-Untertitel) von besserer Qualität seien. Doch das war’s noch nicht. Abgesehen von der schlechten Qualität bemängeln Fans seit Jahrenden Zustand der Seite. Der Video Player funktioniert nicht, die Seite ist nicht aufrufbar, das Angebot ist mangelhaft, etc. Außerdem sind aufgrund von Lizenzproblemen viele Anime in gewissen Regionen nicht verfügbar, was dazu führt, dass viele Leute zu VPNs (Virtual Private Networks) greifen. Dennoch ist es illegal VPNs zu benutzen, um Lizenzprobleme zu umgehen. Diese Faktoren führen wiederum dazu, dass viele Fans zu illegalem Streaming mit Fansubs greifen, obwohl ein legaler Service bereits besteht.
Das harte Brot professioneller Manga-Übersetzer/innen
Aber selbst, wenn ein Verlag es schafft, die nötigen Lizenzen für einen Titel zu besorgen, muss dieser immer noch übersetzt werden. Leider präsentiert sich hier das zweite Problem: Professionelle Übersetzer/innen sind eine Rarität. Da die meisten Verlage keine eigenen Übersetzer/innen beschäftigen, sind sie dazu gezwungen, sich an freiberufliche Übersetzer/innen zu wenden. Diese sind aber aus vielen Gründen schwer zu finden, denn nicht nur ist man als Freiberufler/in immer einem Risiko ausgesetzt, sondern muss sich oftmals sehr schlechten Bedingungen beugen. Denn um mit der Nachfrage Schritt zu halten, wird von den Übersetzer/innen oft verlangt, unter suboptimalen Bedingungen zu arbeiten. Zeitdruck, schlechte Bezahlung und ein Mangel an Richtlinien stehen dabei auf der Tagesordnung.
Dazu kommt, dass Übersetzen ein langwieriger, kriechender Prozess ist, der viel Geschick und Kreativität voraussetzt. Zugleich herrscht immer Zeitdruck: Oft stehen Übersetzer/innen vor dem Problem, Abstriche in der Qualität machen zu müssen, um genügend Geld zum Leben verdienen zu können. Dazu kommt, dass es keinen direkten “Weg” gibt Übersetzer/in zu werden. Die meisten sind entweder Quereinsteiger/innen oder haben vorher schon Erfahrungen in Scanlator-Gruppen gesammelt. Da diese jedoch offiziell illegal sind und der Industrie schaden, kann einem diese Erfahrung später auch Optionen verbauen. Also selbst wenn diese Leute später mal professionelle Übersetzer/innen werden wollen, können sie ihre vorherige Arbeit nicht als Qualifikation angeben,da viele Arbeitgeber Scanlations als verwerflich betrachten. Dies führt zu einigen Komplikationen, denn ohne vorherige Erfahrung und Kontakte ist es sehr schwer, in die Branche einzusteigen. Dies führt zu einem sehr paradoxen Arbeitsmarkt, der von Grauzonen und Unklarheit gekennzeichnet ist.
Ein weiterer Punkt ist natürlich die Frage, ob sich professionelle Übersetzer/innen überhaupt auf einem Markt halten können, der in Konkurrenz mit kostenfreien Übersetzungen im Internet steht. Zwar mag es Unterschiede in der Qualität geben und auch leidenschaftliche Fans, die sich eine lizensierte Übersetzung in Form eines gedruckten Bandes zulegen würden, dennoch gibt es genauso Konsument/innen, die den kostenfreien Weg bevorzugen. So ist zum Beispiel der Markt gerade im anglo-amerikanischen Bereich eher hart umkämpft und professionelle Verlage müssen sich umso stärker behaupten, da Scanlations zum größten Teil auf Englisch angefertigt werden.
Die Perspektive der Mangaka
Aufgrund der Sprachbarriere interagieren viele Mangaka nicht mit ihren ausländischen Fans und andersherum. Aber abgesehen von der Sprachbarriere sind sich einige Mangaka ihres internationalen Ruhmes zunächst gar nicht bewusst, da sich der Verkauf von Manga hauptsächlich auf das Inland konzentriert. Dennoch gab es von der japanischen Seite einige Reaktionen bezüglich Scanlations und eines haben sie alle gemein: Enttäuschung. Denn Mangas zählen, genauso wie Kunst und Musik, als geistiges Eigentum und wer mag es schon, wenn sein Eigentum ungefragt genutzt und bearbeitet wird. Aus diesem Grund haben Firmen wie Shueisha schon mehrmals Statements bezüglich illegaler Scanlations veröffentlicht und bemühen sich, Seiten wie MangaRock das Handwerk zu legen. Aber aufgrund der schieren Menge an illegalem Material scheint dies nahezu unmöglich.
Doch nicht nur die verantwortlichen Verlage haben sich zu dem Thema geäußert, sondern auch die Mangaka selbst, welche oftmals nichts davon wissen, dass ihre Werke auf diese Weise genutzt werden. Dazu kommt, dass viele Mangaka bereits unterbezahlt sind und trotz Erfolg gerade so über die Runden kommen. Zwar weisen viele Scanlation-Gruppen darauf hin, dass man, wenn möglich, das Original kaufen soll, um die Mangaka zu unterstützen – und einige Gruppen stellen die Verbreitung ihrer Scanlations sogar ein, sobald die offizielle Version erhältlich ist. Dennoch, das Internet vergisst nicht und man wird diese Scanlations wahrscheinlich auf ewig im Internet finden können. So werden Scanlations oft rechtzeitig zwischengespeichert und von dritten Personen weiterverbreitet. Man sagt nicht umsonst, dass Dinge, die einmal ihren Weg ins Internet finden, im Internet bleiben. Die größten Leidtragenden bei dieser Sache werden allerdings mit äußerster Wahrscheinlichkeit nicht als erstes die Geschäftsführungen entsprechender Verlage wie Shueisha sein, sondern eben die Künstler selbst, bei denen in Japan auch weiter das Copyright liegt.
Wer nicht gerade der kreative Kopf hinter Werken wie One Piece oder seinerseits Dragon Ball ist, wird nicht reich werden mit seinen Werken. So kommt es doch auf jeden verkauften Band an. Sollten sich also niedrige Verkaufszahlen durch einen Überschuss an kostenfreien Alternativen im Internet ergeben, trifft es die Mangaka am ehesten. Auch steht die Frage nach dem geistigen Eigentum im Raum. Ist es in Ordnung das Werk eines Künstlers, ohne sein Einverständnis zu bearbeiten und kostenfrei zu verbreiten? Selbst, wenn dahinter die noble Absicht steckt, mehr Aufmerksamkeit auf den Mangaka und sein Werk zu ziehen und damit langfristig seine Popularität auch im Ausland zu erhöhen, besteht dieses Dilemma. Ist es in Ordnung, wenn ein Künstler zusehen muss, wie seine Werke gegebenenfalls ohne ausreichende Qualitätskontrolle in eine andere Sprache übersetzt wird? Was ist, wenn die Übersetzung nicht die eigentliche Essenz des Originals wiedergibt?
Bei Übersetzung von einer Sprache in die andere erhält ein Werk häufig einen anderen Charakter. So können einzelne Wörter, die als direkte Übersetzung erscheinen, sich doch in kleinen Nuancen unterscheiden; möglicherweise genug, um die Ursprungsidee stark zu verändern. Gerade im Fall von Japanisch ist es nicht gerade leicht, qualitative Übersetzungen anzufertigen (siehe dazu auch diesen Artikel). So lassen sich oft plumpe, wortwörtliche Übersetzungen von Sätzen ins Deutsche oder Englische in Scanlations finden. Das wirkt jedoch oft unnatürlich und gestelzt in der Zielsprache und erschwert somit den Lesefluss. In anderen Beispielen sind bestimmte Implikationen, wie sie in der japanischen Sprache benutzt werden, schwer übersetzbar, da die Zielsprache diese einfach nicht so nutzt. So tauchen schon Schwierigkeiten bei dem für die japanische Sprache typischen Auslassen von Satzbestandteilen oder die hohe Vielfalt an geschlechtsspezifischen Pronomen für die erste Person auf.
Ein anderes Problem entsteht dadurch, dass Scanlator-Gruppen Übersetzungen mit ihrem Label versehen. Während natürlich ein großer Teil an Arbeit von ihnen darin steckt, muss man sich fragen, ob es gerechtfertigt ist, auf das Werk eines Mangaka seinen eigenen Namen zu schreiben. Am Ende können nur die Urheber selbst Antwort darauf geben, wie sie zu Fanübersetzungen stehen. Mittlerweile ist von Seiten der Mangaka jedoch eher eine negative Stimmung gegenüber Fanübersetzern und deren Scanlationarbeit zu vernehmen. So kann man, wenn man das nächste Mal zu einer Fanübersetzung eines neuen Manga greift, überlegen, welche Konsequenzen am Ende noch folgen und welche Implikationen der Konsum von Scanlations haben könnte. Es gibt reichlich Argumente, die für oder gegen Scanlations sprechen. Welche Seite einem dann doch am ehesten plausibel erscheint, muss man für sich selbst entscheiden.
Kilian Brand und Philipp Eckershoff