
Wie dominant ist die Stimme der Übersetzerin oder des Übersetzers in einer Übertragung von Literatur oder Manga? Lilja Heiderich hat sich dazu Gedanken gemacht und nachgelesen, wie erfahrene Übersetzer wie Jay Rubin oder Zack Davisson dazu stehen.
Liest man ein Werk in einer anderen Sprache, als die, in der es geschrieben wurde, gehen die meisten davon aus, dass sie immer noch die Worte des Autors oder der Autorin lesen. Oftmals vergisst man sogar, dass es sich gar nicht um den Originaltext handelt. Ob nun Roman, Comic oder auch Manga – eine Übersetzung bleibt doch eben genau das: Worte, die in eine andere Sprache transferiert wurden.
Doch ganz so einfach ist es nicht. Es geht nicht nur um die Worte, die auf der Seite geschrieben stehen. Würde man diese direkt übernehmen und dem Lehrbuch nach übersetzen, würde vieles verloren gehen. Auch Emotionen, Witz und kultureller Hintergrund spielen eine wichtige Rolle und tragen zur Gesamterscheinung des Werkes bei. Innerhalb der romanischen Sprachen scheint es machbar, Wort und Witz dem Original getreu oder wenigstens ähnlich zu übernehmen. Schwieriger wird es jedoch, wenn man zwischen zwei Sprachen vermittelt, die in ihrer gesamten Struktur nur wenige Gemeinsamkeiten aufweisen wie vom Japanischen, welches in seinem Aufbau größtenteils einzigartig ist, ins Deutsche oder Englische.
Das bereitet nicht nur Japanolog/innen Probleme, die noch am Anfang stehen, auch professionelle Übersetzer/innen brauchen viele Jahre an Übung und Rat von Muttersprachler/innen, bis sie das Gefühl eines gesamten Werkes einfangen und übersetzen können, ohne dass etwas verloren geht. Um dies zu erreichen, ist es oftmals unvermeidbar, dass die übersetzende Person die Worte selbst in die Hand nimmt und aus Sprache und Kontext etwas Neues formt, was sich liest, als sei es in der übersetzten Sprache geschrieben worden – und das Lesegefühl des Originals dennoch beibehält.
Jay Rubin ist einer der größten Japanisch-Englisch Übersetzer unserer Zeit und langjähriger Übersetzer von Haruki Murakamis Werken. In einem Interview spricht er offen darüber, wie subjektiv seine Arbeit wirklich ist und wie sehr seine persönlichen Präferenzen ein Werk beeinflussen können: „I very often feel I’m writing original—almost original—fiction.“ So entstand die nach ihm benannte Rule of Rubin. Dieser Regel zufolge liest man 95 Prozent eines übersetzten Murakami-Romans nicht dessen Worte, sondern Rubins. Statt einer wortgenauen Übertragung legt dieser mehr Wert darauf, den Rhythmus und die Bilder, welche Murakami kreiert, möglichst genau zu übertragen, auch wenn es phonetisch oft unmöglich ist: „I’m not trying to recreate. What’s on the page is Murakami’s prose, not his language.“
Der bloße Unterschied im Klang der Worte im Japanischen und im Englischen kann schon für einen Unterschied im Leseerlebnis sorgen, wenn auch auf den ersten Blick für keinen erheblichen. Verwandte Wörter gibt es nur solche, die ihren Ursprung im Ausland haben. Die Phonetik ist jedoch nur einer von vielen Faktoren, die Jay Rubin bei seiner Arbeit bedenken muss. Es fehlt an grundlegender grammatikalischer Struktur und Satzstruktur, die man direkt aus dem Japanischen übernehmen könnte. Stattdessen ist Umdenken gefordert: Rubin bemerkt selbst, wie sein Kopf auf ganz andere Weise funktioniert, sobald er auf Japanisch denkt. Doch er sieht dies als einen eindeutigen Vorteil: Es macht ihn freier in seiner Arbeit und lässt ihm Raum, um eigene Entscheidungen zu treffen. Übersetzt er beispielsweise japanische Autor/innen, von denen bereits einige Werke übersetzt sind, ist er weitaus eingeschränkter in seinen Entscheidungen.
Doch nicht nur Jay Rubin ist der Überzeugung, dass er die Werke durch seine Übersetzung maßgeblich beeinflusst: Viele seiner Kolleg/innen schließen sich seiner Aussage an, so auch Zack Davisson, Übersetzer vieler bekannter Manga, wie beispielsweise Isle of Dogs oder Seraphim: 266613336 Wings. Er offenbart in einem Artikel in The Comics Journal, dass eventuelle Emotionen der Fans nicht durch die Worte des Autors, sondern seine eigenen ausgelöst wurden – entsprechend der Rule of Rubin.
Die Reaktion der Leser/innen ist oftmals Enttäuschung. Normalerweise führen Übersetzer/innen eine unsichtbare Funktion aus und bilden lediglich eine Brücke zwischen dem Autor/der Autorin und dem Publikum im Ausland. Doch so, wie es sich viele vorstellen, funktioniert es nicht: „Direct translation—translating words as-is—produces unreadable gobbledygook“, so Davisson. Allseits bekannte Wortwitze gehen beim direkten Übersetzen beispielsweise sofort verloren. Auch das heimelige Gefühl, welche solche Witze durch die Generationen tragen, ist in einer anderen Kultur nur schwer nachzustellen. Egal wie sehr man sich beim Übersetzen bemüht, nicht aufzufallen – in der Übersetzung taucht sowohl die Stimme des Autors oder der Autorin auf als auch die eigene.
Zack Davisson begegnen in seiner Arbeit als Mangaübersetzer allerdings einige ganz spezielle Schwierigkeiten. So sind die Sprechblasen durch die vertikale Schreibweise des Japanischen oftmals sehr schmal. Nicht nur das: Es lässt sich durch bedachte Wortwahl auch viel mehr ausdrücken, als das, was letztendlich auf dem Papier steht. So wird gesagt, dass in japanischer Literatur für jedes geschriebene Wort drei ungeschriebene stehen. Dies im Englischen mit begrenztem Platz nachzustellen, erfordert ein Umdichten, Einschränken, und gleichzeitig Hindeuten, damit kulturelle Bezüge von Menschen mit anderem Hintergrund dennoch verstanden werden können.
Auch die Lautmalerei ist für Davisson immer wieder eine Herausforderung. Oftmals ist diese in die Zeichnungen mit eingearbeitet, weshalb bei einer Übersetzung nicht nur die Wörter, sondern auch das Bild angepasst werden muss. Doch für viele dieser Ausdrücke gibt es kein direktes Äquivalent: So ist das japanische shiin, ein Ausdruck für absolute Stille, für jeden eine neue Herausforderung und auch Geschmacksfrage. Da jeder bestimmte Vorlieben hat und so einen eigenen Stil entwickelt, suchen Agenturen speziell zu ihrem Projekt passende Übersetzer/innen aus. Auch Jay Rubin berichte von seiner Zusammenarbeit mit einem Kollegen an Murakamis 1Q84 und den Schwierigkeiten, die sich dabei entwickelten. Das Entscheidende sei gewesen, sich auf den passenden Ausdruck für Räumlichkeiten und auch Namen für Charaktere zu einigen, da ähnliche Ausdrücke sehr abweichende Konnotation haben können.
Die unterschiedliche Bedeutung der vier verschiedenen Schreibsysteme im Japanischen wird ebenfalls als Stilmittel eingesetzt. Steht das Gesprochene eines Charakters in Katakana, kann man davon ausgehen, dass dieser beispielsweise mit einem ausländischen Akzent spricht. Genau so kann man auch eine Betonung oder Hervorhebung erreichen, die in anderen Sprachen nur durch den Fettdruck oder Kursivschrift möglich sind. Auch die verschiedenen Ausdrucksweisen, sich selber zu nennen, sowie die Höflichkeitsstufen im Japanischen, geben Informationen, die anders schwer vermittelt werden können, da sich oft auf bekannte Floskeln verlassen wird, die erst durch den kulturellen Kontext an wahrer Bedeutung gewinnen.
Es bleibt somit nicht zu vermeiden, dass die Übersetzung fast schon ein Werk für sich ist. Die Handlung bleibt dieselbe, aber Rubin, Davisson und ihre Kolleg/innen sorgen dafür, dass man sich trotz der Sprachbarriere in ausländischer Literatur zurecht findet und ein Leseerlebnis genießen darf, welches dem Original so nah kommt, wie es trotz all der Unterschiede eben möglich ist.
Lilja Heiderich
Ein Gedanke zu „The Rule of Rubin – von den Erfahrungen professioneller Übersetzer/innen“