
„A Lollipop or A Bullet“ ist ein komplexer Manga mit einer sehr reichhaltigen, düsteren Symbolik. Durch die deutsche Übersetzung, die bei Egmont erschienen ist, hat das Werk auch hierzulande einige Beliebtheit erlangt. Caroline Fest widmet sich diesem Manga, in dessen Mittelpunkt die ungewöhnliche Freundschaft zweier Mädchen steht.
Im Manga kommt es häufig vor, dass wir Kinder und Jugendliche als Hauptfiguren in verschiedensten Szenarien vorfinden. Einen besonders starken Effekt hat diese Tatsache dann, wenn es darum geht, sich mit gesellschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen. Durch kindliche Hauptfiguren erscheint das jeweils aufgegriffene Problem besonders drastisch und erweckt möglicherweise auch mehr Aufmerksamkeit und Interesse als bei der Verwendung von bereits erwachsenen Charakteren. Auch der Manga „A Lollipop or A Bullet“ (jap.: 砂糖菓子の弾丸は撃ちぬけない) von Sakuraba Kazuki und Sugimoto Iqura bietet uns ein solches Szenario.
Der Manga selbst ist eine Adaption von Sakurabas gleichnamiger Lightnovel, die 2004 in erster Auflage bei Fujimi Misuterī Bunko (富士見ミステリー文庫) erschienen ist und bislang zwei darauf folgende Neuauflagen zählt. Der Manga selbst wurde 2008 als Taschenbuch in zwei Bänden publiziert. Zuvor war er 2007 als Serie im Magazin Dragon Age (月刊ドラゴンエイジ) veröffentlicht worden, dessen Zielgruppe vorwiegend Jugendliche sind.
In der Geschichte dreht sich alles um die beiden Mädchen Yamada Nagisa und Umino Mokuzu, die gemeinsam eine Mittelschule in einer ländlichen Gegend besuchen. Nagisa tritt als sehr realistische, erwachsen wirkende Person auf. Ihr Wunsch ist es, nach der Mittelschule den japanischen Selbstverteidigungskräften (JSDF) beizutreten. Ihr Vater war Fischer und ist bei einem Sturm umgekommen, weshalb seine Lebensversicherung, der Kassiererjob der Mutter und die Sozialhilfe die einzigen und kargen Einkünfte der Familie bilden. Hinzu kommt, dass ihr älterer Bruder seit einigen Jahren als hikikomori zurückgezogen in seinem Zimmer lebt und einen beträchtlichen Anteil des sowieso knappen Geldes für seine eigenen Interessen ausgibt. Deswegen möchte Nagisa bei der JSDF ihr Geld – „scharfe Munition“ – verdienen, damit sie ihre Familie mit einem gesicherten Einkommen unterstützen kann.

In dieses Weltbild platzt eines Tages Mokuzu herein, die von der Stadt aufs Land gezogen ist und neu in die Klasse kommt. Sie ist nicht nur deshalb eine Attraktion, weil sie hübsch ist und viele Markengegenstände besitzt, sondern auch, weil sie die Tochter eines berühmten Sängers ist, der aus der Region stammt und zusammen mit seiner Tochter von nun an wieder hier leben will. Nach ihrer Selbstvorstellung vor der Klasse wird jedoch schnell klar, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Mokuzu stellt sich als Nixe vor, die sich für die Menschenwelt interessiert und Menschen generell für dumm hält, was ihr schnell den Status des Sonderlings beschert. Nagisa hat für solche abgedrehten Träumereien – „zuckersüße Munition“ – nichts übrig und beschließt zunächst, sie einfach zu ignorieren, bis Mokuzu, die ein wenig hinkt, ein Bein gestellt bekommt und hinfällt. Dabei sieht Nagisa für einen Augenblick, dass sich dunkle Flecken auf Mokuzus Oberschenkeln abzeichnen (Abb. 2, Mitte). Als Reaktion darauf wirft Mokuzu ihr ein „stirb“ entgegen, das die Zeichnerin in eine einzelne Sprechblase auf schwarzem Grund stellt, um die Wucht der Reaktion zu unterstreichen. Die Konfrontation der beiden Mädchen wird an dieser Stelle zusätzlich durch ein langgezogenes Panel-Layout betont. Etwas verwundert, aber trotzdem nicht weiter interessiert, geht Nagisa wieder ihren Gedanken nach, während Mokuzu die Aufmerksamkeit aller anderen auf sich zieht.
Am nächsten Tag wird Nagisa auf dem Heimweg eine Plastikflasche an den Kopf geworfen. Dahinter steckt keine andere Person als Mokuzu, die Nagisa dazu bewegen will, ihre Freundin zu werden. Allerdings ruft dies bei Nagisa eher einen rauen Umgangston hervor. Mit einem seltsamen, herumträumenden Stadtmädchen, das in einer reichen, perfekten Welt lebt, will sie nichts zu tun haben, zumal sie ihr in der Klasse nicht gerade wohlgesonnen erschien. Mokuzu bleibt aber hartnäckig, und so geraten die beiden Mädchen immer wieder aneinander. Von Mokuzus „zuckersüßer Munition“ beschossen, entwickelt Nagisa langsam ein eigenwilliges Freundschaftsgefühl gegenüber dem seltsamen Mädchen.
Es wird jedoch immer wieder deutlich, dass bei Mokuzu zuhause etwas nicht stimmt. Bei einer zufälligen Begegnung im Convenience Store erscheint ihr Mokuzus Vater als unbeherrscht, gewalttätig und seiner Tochter gegenüber abweisend. Er lässt sie einfach so vor dem Geschäft stehen und fährt mit seinem Auto davon, anstatt seine gehbehinderte Tochter mitzunehmen. Trotzdem erzählt Mokuzu, dass sie ihren Vater sehr verehrt. Dann gibt es wieder eine Situation, in der Nagisa von der Straße aus hört, wie Mokuzu sich bei ihrem Vater entschuldigt, während dieser sie schlägt. Damit erklären sich auch die Flecken auf Mokuzus Oberschenkeln. Als Nagisa sie darauf anspricht, behauptet sie aber, dass es Verunreinigungen sind, die durch Verschmutzungen im Meer auf ihrer empfindlichen Nixenhaut aufgetaucht seien. Mokuzu spricht auch immer wieder von einem Sturm, der kommen wird, bei dem sie zu Schaum wird und verschwindet.
Dieser Sturm zieht dann auch tatsächlich auf. Jedoch schlägt sich das nicht nur auf das Wetter nieder, sondern hat auch eine tiefere Bedeutung und fatale Folge für Mokuzu, wie Nagisa leider zu spät feststellen muss.
Der Manga und die Lightnovel starten zwar mit unterschiedlichem Vorwissen für den Leser in die Erzählung, aber beide Geschichten portraitieren die unterschiedlichen „Kampffronten“ zweier Mädchen, die mit unterschiedlichen Mitteln versuchen, ihre Situation zu bewältigen. Mokuzus „zuckersüße Munition“ kann nichts an ihrer Situation ausrichten. Aus ihrer Realität strickt sie sich ein Fantasiegebilde zurecht, wodurch sie mit ihrer Lage zwar umgehen, aber nichts daran ändern kann. Auch Nagisa, die nach „scharfer Munition“ sucht, steht letztendlich hilflos da und kann nichts für ihre Freundin oder auch sich selbst tun. Dies verdeutlicht die Lage, in der sich Kinder mit solchen Problemen oftmals befinden. Die Erwachsenenfiguren in der Geschichte scheinen sich auch kaum um die beiden Kinder zu sorgen und ihre Gedankengänge nicht einmal zu bemerken. Die Tragik des Hilflosen und Ungesehenen ist in dieser Geschichte besonders deutlich.
Auch die durchweg präsente Meerjungfrauen-Metapher ist geschickt eingesetzt, um Mokuzus Misshandlung zu illustrieren. Angelehnt an das Märchen von Hans Christian Andersen, in dem die Meerjungfrau mit jedem Schritt an Land Schmerzen erleiden muss, erträgt auch Mokuzu ihre Verletzungen für die Person, die sie liebt. Sie romantisiert damit den Missbrauch durch ihren Vater, um es als ihr Schicksal hinnehmen zu können. Zusätzlich hat ihr Vater in seiner Zeit als Sänger auch ein Lied mit dem Titel „Die Knochen der Meerjungfrau“ (人魚の骨) verfasst, in dessen Text schon voraussehbar war, was geschehen würde. Mokuzu greift also im gleichen Zug auch auf Erinnerungen aus ihrer Kindheit zurück, um sich ihren Alltag schön zu dichten.
„A Lollypop or A Bullet“ ist eine ungewöhnliche Erzählung über das Erwachsenwerden zweier Mädchen, die in schwierigen Verhältnissen aufwachsen. Themen wie Armut, Gewalt und das Stockholmsyndrom werden in diesem Manga angerissen, jedoch nicht explizit dazu genutzt, kritisch auf die Problematik aufmerksam zu machen. Vielmehr dienen sie dazu, eine gute Story zu erzeugen. Es ist sehr deutlich dargestellt, wie hilflos Kinder in solchen Situationen sind, egal ob sie nun versuchen, ihre Situation mit nüchternem Realismus oder durch eine Fantasiebrille zu sehen. Hinter den schönen Zeichnungen verbirgt sich auf jeden Fall eine tragische Geschichte, die man auf den ersten Blick nicht erwartet hätte.
Caroline Fest
Literatur
Sakuraba, Kazuki; Sugimoto, Iqura (2010): „A Lollipop or A Bullet“ [Original: 砂糖菓子の弾丸は撃ちぬけない] . Übersetzung: Burkhard Höfler. 1. Auflage. Köln: EGMONT.
Fraser, Lucy (2012): „An Unsuitable Job for a Girl: Violence and the Girl in Two Novels by Sakuraba Kazuki“. In: Intersections: Gender and Sexuality in Asia and the Pacific; 28, März 2012.
Lightnovel [Stand 03.02. 2017]
Manga Bd.1 [Stand 03.02.2017]