A Silent Voice: Nishimiya Shôko – „Alien“ oder tragische Heldin?

Abb. 1: Cover der japanischen Ausgabe von „Koe no katachi“

In dem Manga Koe no katachi („A Silent Voice“, 2013–2014) von Ôima Yoshitoki ist eine der Protagonistinnen ein gehörloses Mädchen. Eine solche Darstellung ist im Genre des shônen Manga, dem das Werk angehört, sicher außergewöhnlich  – aber handelt es sich auch um eine realistische und fortschrittliche Thematisierung des Lebens mit Gehörlosigkeit? Maya Matsubara hat sich Koe no katachi und die Protagonistin Nishimiya Shōko für uns etwas genauer angesehen.

「変な奴」(„Die ist seltsam“) – ist die erste Reaktion von Ishida Shōya, als die gehörlose Nishimiya Shōko sich der Klasse vorstellt. Durch ihre Andersartigkeit weckt Shōko sofort die Neugier von Shōya, der anfängt, sogenannte „Experimente“ mit dem „Alien Nishimiya“ durchzuführen. Die von ihm angezettelte anfängliche Neckerei eskaliert schnell zur Schikane gegen sie durch die ganze Klasse. Als jedoch nach dem Täter der Schikane gesucht wird, wird Shōya als alleiniger Täter von der Klasse bloß gestellt. Von da an beginnt eine neue Schikane der Klasse gegen ihn. Shōko wechselt kurz darauf die Schule und verschwindet aus seinem Leben. Sechs Jahre später, im dritten Jahr der Highschool, beschließt Shōya, seine Schuld bei Shōko wiedergutzumachen und sucht sie auf. Sie wagen einen Neuanfang als Freunde und treffen auf alte Klassenkameraden, die ebenfalls mit den Ereignissen der Vergangenheit hadern. Durch ein gemeinsames Filmprojekt mit alten und neuen Klassenkameraden entstehen neue Freundschaften, aber auch Konfrontationen mit der Vergangenheit und Spannungen.

Die Themen des Mangas Koe no katachi von Ōima Yoshitoki reichen von Gehörlosigkeit, Schikane an Schulen, Selbstmord, Schuld und Sühne bis hin zu Freundschaft, Liebe und Schulalltag. Die Autorin reichte den Manga 2008 für den Newcomer-Wettbewerb von Weekly Shōnen Magazine ein und belegte erfolgreich den ersten Platz. Eigentlich war eine Veröffentlichung kurz nach der Preisvergabe geplant, jedoch gab es von Seiten des Verlages Bedenken, dass das Thema Schikane in Zusammenhang mit Gehörlosigkeit für Empörung bei den Lesern sorgen könnte. Die Veröffentlichung wurde erstmal für einige Jahre auf Eis gelegt. 2011 kam es dann endlich zur Erstveröffentlichung der Original-Oneshot-Version im Bessatsu Shōnen Magazine. Im Vorfeld der Veröffentlichung wurde der Japanische Gehörlosenbund konsultiert, um sich die Meinung der Gehörlosen zum Werk einzuholen und ggf. kritische Stellen zu korrigieren. Der Gehörlosenbund segnete ihn ab und der Manga konnte in unveränderter Form veröffentlicht werden. 2013 wurde der Oneshot noch einmal als Remake-Version im Weekly Shōnen Magazine veröffentlicht. Im gleichen Jahr begann Koe no katachi als Serie im Weekly Shōnen Magazine und wurde 2014 mit sieben Comicbänden abgeschlossen. In der deutschen Fassung von Egmont sind bisher vier Bände erschienen. In Japan fand der Manga großen Anklang und wurde mehrfach preisgekrönt, u.a. mit dem Best-Newcomer-Preis des Osamu-Tezuka-Kulturpreises. 2016 erschien Koe no katachi auch als Animationsfilm von Kyoto Animation. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Films erreichte die Auflagenzahl bereits drei Millionen Exemplare.

Abb. 2: Die erste Begegnung zwischen den Protagonisten

Der Manga bietet ein breites Spektrum an potenziellen Untersuchungsansätzen. Im Rahmen des Seminars „Potenziale des Mediums Manga“ legten wir den Fokus auf die Verarbeitung der Gehörlosigkeit im Manga. Anhand des Aufsatzes „Disabled Discourse: hearing accounts of deafness constructed through Japanese television and film” von James Valentine (2001) wurde die Darstellung der Gehörlosigkeit in Koe no katachi analysiert.

Die Kommunikation mit Shōko läuft entweder über die Gebärdensprache oder die schriftliche Verständigung auf einem Notizbuch. Für die Szenen, in denen Gebärdensprache gezeigt wird, bekam die Autorin Hilfe von ihrer Mutter, die als Dolmetscherin für Gebärdensprache arbeitet. Shōko versucht mit Shōya auch mündlich zu kommunizieren, aber wegen ihrer schlechten Aussprache wird sie von ihm nicht verstanden. Nur wenige Figuren beherrschen in Koe no katachi die Gebärdensprache, und diese Fähigkeit wird als etwas Besonderes, aber für andere Unverständliches angesehen. Oft wird in der medialen Darstellung als Kompensation der fehlenden sprachlichen Kommunikation eine Vielfalt an Mimik als Mittel zum Ausdruck von Emotionen bei gehörlosen Figuren verwendet. Im Fall von Shōko lässt sich wenig von ihren Gedanken oder Gefühlen aus ihrer Mimik herauslesen. Shōko selbst erklärt im Laufe der Geschichte, dass sie nicht anders kann, als immer nur zu lächeln, um ihre Unsicherheit darüber, ob sie das Gesagte überhaupt richtig verstanden hat, zu überspielen. Da sie bei mündlichen Gesprächen meist nicht alles versteht, muss sie im Nachhinein noch einmal von anderen aufgeklärt werden. Selbst in angespannten Situationen bleibt eine heftige Reaktion von Shōko aus, da sie wegen der Kommunikationsbarriere nicht auf der Stelle begreifen kann, was geschieht. Genau wie die hörenden Menschen um Shōko, die sie anhand von nicht-gesprochener Kommunikation interpretieren müssen, kann auch Shōko ihr Umfeld nur aus größtenteils visuellen Informationen einschätzen. Nur in wenigen Momenten zeigt Shōko in ihrer Mimik Emotionen wie Wut oder Trauer und diese wirken besonders heftig, weil sie sonst immer sanft und still erscheint.

Die Figur der Nishimiya Shōko verkörpert ein recht stereotypes Bild einer Gehörlosen. In medialen Darstellungen werden gehörlosen Figuren laut Valentine je nach Gender spezifische Persönlichkeitsmerkmale zugeschrieben. So wird eine gehörlose Frau als eine schwache, schutzbedürftige Person dargestellt, die zwar ohne Hilfe von Hörenden nicht auskommen kann, sich aber stets durch ihre Sanftmütigkeit selbstlos für andere einsetzt. Auch Shōko ist auf die Unterstützung des Umfelds angewiesen, die sie über Unklarheiten aufklären und Geduld mit ihr haben, wenn sie für bestimmte Handlungen mehr Zeit braucht als andere. Dass sie ihren Mitmenschen manchmal zur Last fällt, ist ihr bewusst und sie leidet innerlich darunter, teilt aber dieses Leid mit keinem. Die Zerbrechlichkeit von Shōko könnte man auch aus der Schreibweise ihres Namens herausinterpretieren, da die Zeichen für Shōko (硝子) den Zeichen für Glas (mit der Lesung: garasu) entsprechen.

Abb. 3: Shôya versteht, was Shôko getan hat

Ihr selbstloser Charakter wird deutlich, als sich herausstellt, dass sie jeden Morgen beleidigende Schmierereien der Klassenkameraden auf Shōyas Tisch weggewischt hat. Shōya beobachtet, wie Shōko früh morgens zur Schule kommt und Schmierereien auf einem Tisch wegwischt. Zunächst glaubt er, dass der beschmierte Tisch Shōko gehört und bemitleidet sie dafür, dass sie scheinbar noch immer schikaniert wird. Doch als Shōko die Schule wechselt, steht Shōya vor seinem beschmierten Tisch und realisiert, wie töricht er war und eine Stimme aus der Klasse sagt zu ihm: 「やっと気づいた?」(„Hast du es endlich geschnallt?“) (Abb. 3). Trotz seiner Schikane an ihr, versuchte Shōko, Shōya vor der Schikane der Klassenkameraden zu schützen. Als Shōya am Tag der Entlassungsfeier die Schmierereien auf seinem Tisch wegwischt, weint er vor Reue, Shōko abgewiesen zu haben, obwohl sie freundschaftlich auf ihn zukam. Er sagt zwar 「あいつマジムッカつく…」(„Die pisst mich richtig an…“), aber sein weinender Gesichtsausdruck und die kurzen Bilder aus seinen Erinnerungen an Shōko machen in dieser Szene seine Reue deutlich. Diese Reue bringt Shōya dazu, sechs Jahre später nach Shōko zu suchen.

Durch die Konzeption als tragische Figur sollen solche weiblichen gehörlosen Figuren laut Valentine Mitleid und Beschützerinstinkte wecken. Bei Koe no katachi fallen die Reaktionen auf Shōko bei den jeweiligen Figuren unterschiedlich aus, obwohl sie von allen als eine „schwache“ Person wahrgenommen wird. Der junge Shōya sieht sie als mysteriöses Alien. Gleich bei ihrer ersten Begegnung wird das bildlich auf einer Doppelseite eindrucksvoll inszeniert, auf der Shōko und Shōya mit der Erde im Hintergrund im Weltall zu sehen sind (Abb. 2). Das Gesicht von Shōko ist dabei nicht zu erkennen, sodass der mysteriöse Eindruck verstärkt wird. Die alte Klassenkameradin Ueno wirft Shōko vor, die Rolle der armen Schutzbedürftigen nur zu spielen, um Shōyas Aufmerksamkeit zu bekommen. Shōkos Mutter geht streng mit ihr um, damit sie die Stärke erlangt, sich selbst zu wehren und die kleine Schwester Yuzuru spürt eine starke Verantwortung, mit allen Mitteln ihre große Schwester zu beschützen.

Man könnte kritisieren, dass Shōko zu sehr dem medialen Stereotypen einer Gehörlosen entspricht und deshalb als Charakter eher unkreativ und flach erscheint. Der Reiz dieses Mangas liegt jedoch nicht in der charakterlichen Attraktivität der Figuren, sondern in der Handlung, die den Umgang mit Gehörlosen und die Problematik von Schikane gegenüber Gehörlosen realistisch darstellt. Dadurch, dass der Manga großen Zuspruch vom Japanischen Gehörlosenverbund bekommt, steigt trotz der stereotypem Figurendarstellung die Glaubwürdigkeit der Darstellung von Gehörlosigkeit in Koe no katachi. Noch gibt es kaum wissenschaftliche Texte zu diesem Manga, aber er bietet auf jeden Fall die Möglichkeit, unter verschiedenen Aspekten in diverse Diskurse eingebettet und analysiert zu werden.

Maya Matsubara

 

Literatur

Valentine, James (2001): „Disabled Discourse: hearing accounts of deafness constructed through Japanese television and film”. In: Disability & Society Vol. 16, Iss. 5, S. 707–727.

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