Rashomon oder „Das habe ich aber anders in Erinnerung“

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Flickr cc, Duke University Archives

Seit 26 Staffeln treten die Simpsons im Fernsehen auf. Ihre Geschichten beschränken sich aber nicht nur auf ihre Heimatstadt Springfield, sondern sie haben sie im Laufe der Jahre auch ins Ausland gebracht. Auch Japan blieb vor der gelben Familie nicht verschont. Durch Zufall kommen Marge, Homer, Bart, Lisa und Maggie in einer Episode (S10-E23) an Flugtickets heran. Trotzdem ist Homer vor dem Abflug alles andere als begeistert.

Marge: „Come on Homer, Japan will be fun. You liked Rashomon.“

Homer: „That’s not how I remember it.“

Was sagt uns diese kleine Szene? Dass Homer Japan nicht mag? Nein, der Dialog ist ein Beispiel dafür, wie subtil der Humor von den Machern der Simpsons eigentlich sein kann. Ohne Vorwissen wird sie nämlich nicht wirklich in Erinnerung bleiben. Den wahren Sinn dieses Gesprächs werden nur diejenigen verstehen, die den Film Rashomon (1950) von Akira Kurosawa gesehen haben, mit dem ich den kleinen „Kurosawa-Themenmonat“ hier auf Poypura beginnen möchte.

Dabei macht es durchaus Sinn diesen Film als erstes vorzustellen. Denn es war Rashomon, der den Filmenthusiasten und –kritikern das japanische Kino nach dem zweiten Weltkrieg näher gebracht hat. Nur durch Zufall gelang der Film 1951 in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig, wo er auch den Goldenen Löwen gewann. Damit war er der erste japanische Beitrag, dem dies gelang und das japanische Kino tauchte plötzlich auf der Weltkarte des Films auf. 1952 folgte sogar ein Oscar. Dieser Erfolg war jedoch nicht vorhersehbar, zweifelte doch schon der Leiter der Produktionsfirma Daiei, Masaichi Nagata, lautstark vor Journalisten und fragte nach einer Pressevorführung, worum es in dem Film eigentlich gehen würde.

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Wikimedia Commons

Rashomon basiert auf den beiden Kurzgeschichten Rashomon und Yabu no Naka von Ryûnosuke Akutagawa (1892- 1927). Die Geschichte ist nicht sehr stringent, sondern besteht aus mehreren Schachteln. An dem zerfallenen Rashomon-Tor suchen ein Holzfäller (Shimura Takashi), ein Mönch (Chiaki Minoru) und ein Bürger (Ueda Kichijirô ) Zuflucht vor dem Regen, der schon seit Tagen heftig vom Himmel fällt und damit für eine für den Film wunderbar passende Grundstimmung sorgt. Der Holzfäller berichtet von seinem Fund eines toten Samurai (Masayuki Mori) in einem Wald nahe der Stadt. Der Mönch erzählt, wie er dem Samurai und seiner Frau (Kyô Machiko) am selben Tag vorher begegnete. Sowohl der Holzfäller, als auch der Mönch wurden als Zeugen in eine Polizeistation vorgeladen, um ihre Aussagen zu machen. Sie erinnern sich auch an die Aussagen des Räubers Tajômaru (Mifune Toshirô), der Frau des Samurai, die von dem Räuber vergewaltigt wurde und des toten Samurai selber. Diese drei Akteure legen in der Polizeistation ihre eigene Sicht der Ereignisse dar. Der tote Samurai macht dies mit der Hilfe eines Mediums. Alle Versionen unterscheiden sich voneinander, scheinen in sich aber schlüssig zu sein. Das einzige was sicher ist, ist, dass die Frau vergewaltigt und der Samurai tot aufgefunden wurde. Da der Holzfäller jedoch am Stadttor behauptet, dass alle drei Versionen falsch seien, wird er von dem Bürger dazu gedrängt, den beiden sein Wissen nicht weiter zu verheimlichen. Wer lügt und wer sagt die Wahrheit?

Wir stellen schnell fest, dass der Räuber, die Frau und der Samurai ihre Berichte vor allem dazu nutzen, Selbst- und Fremdcharakterisierung zu betreiben. So berichtet die geschändete Ehefrau, dass sie als „schwache und hilflose Frau“ dem Räuber Tajômaru ausgesetzt gewesen wäre. Diese selbst verliehene Opferrolle lässt sich zum einen durch die Kameraposition während der Verhandlung erkennen, in der der Zuschauer mittels high shot oft auf sie herabblickt. Zum anderen werden der Samurai auf seine Rolle als mit Abscheu erfüllter Ehemann und Tajômaru auf seine Rolle als Vergewaltiger reduziert, während man beispielsweise in Tajômarus Version erkennen kann, dass die Frau eine gewisse Bereitschaft zeigte und er, Tajômaru, den Samurai in einem harten Schwertduell fair besiegen und töten konnte.

Der Film sucht jedoch nicht die Wahrheit. Alles und nichts ist wahr. Kurosawa illustriert die Unfähigkeit der Menschen, ehrlich zu sich selber zu sein und deren Angewohnheit die Wahrheit so umzuformen, wie es ihnen gerade passt. Aber auch wenn die Wahrheit nicht aufgedeckt wird, bindet der Film uns, die Zuschauer, sehr effektvoll ein. Während dem Verhör sitzt der Zuschauer dem jeweiligen Befragten gegenüber, manchmal starrt er uns sogar an. Da der Fokus auf den Zeugen liegt, muss der Zuschauer urteilen, was stimmt und was nicht. Der Befragte redet mit uns und versucht uns von seiner Sicht zu überzeugen. Besonders gelungen ist dabei das Verhör der Frau, da sie diesen Kontakt mit ihrem eindringlichen Blick sucht, um uns von ihrer Rolle als Opfer zu überzeugen. Aber auch Mifune Toshirô bleibt uns als Räuber Tajômaru mit seinem sehr lebendigen Schauspiel in Erinnerung, was ihm auch in den anderen Filmen Kurosawas mehr als gut gelungen ist.

Rashomon liefert eine Geschichte, die in 88 Minuten mit schön konstruierten Settings, erinnerungswürdigen Schauspielern, Innovationen – Kurosawa war der erste, der die Kamera direkt auf die Sonne richtete – und einem Verbrechen ohne Auflösung das Wesen des Menschen debattiert und dabei unter anderem die Frage stellt, ob es die äußeren Umstände sind, die ihn zum Egoisten verkommen lassen. Dazu werden im Film unterschiedliche Meinungen vorgetragen. Am Ende sieht es aber so aus, als ob der Film Hoffnung gibt. Der Mensch scheint, frei nach Goethe, in der Lage zu sein, sich in schwierigen Zeiten für das Richtige zu entscheiden. Mit einer überschaubaren Anzahl an Settings und einem relativ kleinen Cast setzt sich Kurosawas Meisterwerk also mit einer der grundlegendsten Fragen auf sehr unterhaltsame Weise auseinander. Daher ist Rashomon, meiner Meinung nach, nicht nur Pflicht für jeden, der eine Vorliebe für japanische Filme hat, sondern generell die Kunst des Kinos zu schätzen weiß. Es ist ein Klassiker der Filmgeschichte. Homer würde das bestimmt auch so sehen.

2 Gedanken zu „Rashomon oder „Das habe ich aber anders in Erinnerung“

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