Sich genussvoll in einer Story verlieren: Visual Novels und Immersion

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Abb. 1: Werbung für die Visual Novel „Rewrite“. Flickr cc, Ryo FUKAsawa

Es ist das simpelste Prinzip eines Computerspiels: Auf dem Bildschirm entfaltet sich Stück für Stück eine Geschichte in Textform, deren Verlauf man ab und zu durch Entscheidungen beeinflussen kann. Weder ist die Grafik besonders eindrucksvoll, noch gibt es abwechslungsreiche Szenarien zu bewundern. Dennoch üben die sogenannten „Visual Novels“ einen großen Reiz auf Spieler aus und gehören zu den erfolgreichsten Produkten auf dem japanischen Computerspielmarkt. Wir haben das Phänomen genauer unter die Lupe genommen und einige Strategien entdeckt, mit denen die Spieledesigner ihr Publikum in den Bann der Geschichte ziehen können.

Das „Eintauchen“ in fiktionale Welten, wie sie die Visual Novels bieten, wird in der Medienforschung als „Immersion“ bezeichnet. Dieses Eintauchen in eine andere Welt bedeutet jedoch nicht, dass man dabei das Bewusstsein dafür verliert, was real ist und was nicht. Vielmehr ist es so, dass der Spieler bewusst seine Aufmerksamkeit in das Spiel verlagert und so selbst den Effekt der Immersion in sich erzeugt. Samual Taylor Coleridge hat für dieses Phänomen – das sich auf alle fiktionalen Werke/Welten anwenden lässt – schon 1817 den Ausdruck „Willing suspension of disbelief“ geprägt. Jan-Noël Thon differenziert in seinem kurzen Aufsatz „Immersion revisited„, den wir näher betrachtet haben, zwischen vier Arten von Immersion: Räumlicher, ludischer, narrativer und sozialer Immersion.

Räumliche Immersion entsteht, indem der Spieler seine Aufmerksamkeit auf die Schauplätze verlagert, die ihm im Spiel (meist über einen Avatar) zugänglich sind. Dabei fördere laut Thon eine realistisch anmutendende 3D-Grafik die Immersion, dies sei jedoch keine zwingende Voraussetzung. Bei der ludischen Immersion geht es vor allem darum, welche Herausforderungen das Spiel den Spielern bietet. Die Spielenden verlagern ihre Aufmerksamkeit auf das Spiel und dessen Interaktionsangebote, wodurch ein „Flow“ enstehen kann, ein Zustand, in dem die Spielenden voll in das Spiel vertieft und hoch motiviert sind.

Mit narrativer Immersion bezeichnet Thon die Verlagerung der Aufmerksamkeit des Spielers auf die Figuren und auf den Fortgang der Geschichte. Hierbei werde durch die Gestaltung der Zeitstruktur Spannung erzeugt („temporale Immersion“) und ein Interesse am Schicksal der Figuren geweckt („emotionale Immersion“). Soziale Immersion schließlich entsteht durch Kommunikation beim Spielen, z.B. durch Teamspeak oder durch kurze Textnachrichten, die man sich beim Spielen schickt.

Wie Immersion bei Visual Novels funktioniert, haben wir an einem Beispiel betrachtet: Rewrite (リライト), eine sehr erfolgreiche Visual Novel, die das Studio Key im Jahr 2011 veröffentlicht hat. Man spielt hier den High-School-Schüler Kotarô, der das Geheimnis der Stadt Kazamatsuri entschlüsselt, die von Pflanzen überwuchert wird. Ein wichtiges Prinzip der Visual Novels ist es, die Identifikation mit der Figur die man spielt zu fördern. In Rewrite geschieht dies, indem die Geschichte aus der Perspektive der Hauptfigur präsentiert wird.

Abb.1: Bildschirmansicht von Rewrite
Abb.2: Bildschirmansicht von Rewrite

Wie man in Abb. 2 sehen kann, werden andere Figuren, mit denen Kotarô in Rewrite interagiert, meist in Frontalansicht gezeigt, so als ob man ihnen direkt gegenübersteht. Die Aktionen der Hauptfigur sind in der ersten Person formuliert, also z.B. „ich gehe auf die Straße und schaue mich um“. Zusätzlich wurde der Dialogtext der anderen Figuren von (teilweise ziemlich bekannten) seiyû eingesprochen, während der Text der Hauptfigur unvertont bleibt und sich der Spieler seine eigene Stimme vorstellen kann.

In der Seminar-Diskussion wurde insgesamt die auditive Ebene als ein wichtiger Faktor genannt, der die Immersion in Rewrite fördert. Während die Grafik recht einfach gehalten ist, unterstützt der Ton sehr stark das Geschehen und vermittelt dem Spieler eine Vorstellung der Atmosphäre, die in der fiktiven Stadt Kazamatsuri herrscht. Rewrite bietet nur hin und wieder Interaktionsmöglichkeiten über Entscheidungen, und die meiste Zeit klickt man als Spieler einfach weiter, um den nächsten Teil des Dialogs oder der Handlung zu erfahren. So rudimentär diese Aktion des Klickens auch sein mag, sie scheint doch wichtig für das Spiel zu sein – zumindest vermuteten die Seminarteilnehmer, dass sie stärker in das Spiel hineingezogen würden, könnten sie selbst klicken und damit auch das Tempo des Fortgangs bestimmen (bei uns hat nur eine Person gespielt).

In Bezug auf Thons Text konnten wir schließlich feststellen, dass Visual Novels vor allem mit narrativer Immersion arbeiten. Im Gegensatz zu analogen Romanen, die nur mit geschriebenem Text arbeiten, beziehen Visual Novels hierbei allerdings auch stark die visuelle und auditive Ebene ein. Identifikation ist – so unser Fazit – hierbei ein sehr wichtiges Prinzip, dem in Thons Text noch etwas wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird und das in die Analyse von Visual Novels stärker einbezogen werden sollte.

Ein Gedanke zu „Sich genussvoll in einer Story verlieren: Visual Novels und Immersion

  1. Ergänzend lässt sich noch hinzufügen das nicht alle Visual Novel reine Visual Novel sind.
    Daher gibet es durchaus Beispiele in denen räumliche ludische Imersion eine große Rolle spielen. So z.B in Visual Novel mit Strategie-, RPG-, Adventure-, Glücksspiel oder Puzzlespielelementen. Beispiele dafür sind z.B. Galaxy Angels, Phoenix Wright, Professor Layton, Eien no Aselia.
    Gleichzeitig gibt es auch Spiele die Visual Novel enthalten (z.B. Ar Tonelico II[RPG]).

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