
In Zeiten, in denen viele Anime sich stark durch ihre Charaktere definieren und insbesondere originelle Storylines wie Settings zunehmend rar zu werden scheinen (man sehe sich nur die Fülle an Slice-of-Life-Geschichten an, deren Hauptinhalt eben im Grunde nur unspektakuläres Alltagsleben ist), ist es durchaus angenehm, auch noch Werke zu finden, die sich originellen und komplexeren Thematiken zuwenden. Mit dem im Oktober 2012 im japanischen Fernsehen erstmals ausgestrahlten Anime Psycho-Pass (サイコパス) ist es dem Produktionsteam von Studio I.G. (u.a. Guilty Crown, Attack on Titan) um Katsuyuki Motohiro und Naoyuki Shiotani gelungen, ein solches Werk auf die Beine zu stellen.
Was wird aus unserer Welt, wenn die Polizei weiß, ob wir bald ein Verbrechen begehen werden? Was wird aus unserer Gesellschaft? Diesen Fragen geht Psycho-Pass nach. Das Szenario spielt im Jahr 2113, in einem futuristischen und hochtechnisierten Japan. Die Polizei verfügt durch das „Sibyl System“, das durchgehend den psychischen Zustand jedes einzelnen Bürgers überwacht, über die Information, wie wahrscheinlich es ist, dass eine bestimmte Person ein Verbrechen begeht. Ausgedrückt mit einer Zahl, dem sogenannten „Kriminalitäts-Koeffizienten“, ist diese Information in der Gesellschaft, die der Anime darstellt, einer der wichtigsten Werte zur Charakterisierung einer Person geworden. Die Polizei arbeitet mit speziellen Waffen, die je nach Höhe der Koeffizienten überhaupt nicht, nur betäubend oder direkt vollständig eliminierend (denn Personen mit zu hohem Koeffizienten werden als „nicht mehr zu retten“ begriffen) funktionieren. Diejenigen, die dauerhaft einen erhöhten Koeffizienten aufweisen, sogenannte „latente Kriminelle“, erhalten spezielle Jobs bei der Polizei, gewissermaßen wie Hunde, die von ihren Haltern dauerhaft unter Kontrolle gehalten werden.
Allein aus dieser kurzen Beschreibung des Settings dürfte ersichtlich werden, dass es sich bei Psycho-Pass um die Darstellung einer dystopischen Zukunftswelt handelt. Der Anime setzt den Fokus auf die Wirkung, die eine Institution wie das Sibyl System auf eine Gesellschaft haben kann. Dadurch erkundet er komplexere psychologische und soziologische Themen, so etwa die Frage, ob eine Person mit hohem Kriminalitäts-Koeffizienten „geheilt“ werden kann, oder ob negative Gedanken unterdrückt gehören, um nicht möglicherweise als Bedrohung für die Gesellschaft aufgefasst zu werden. Hinzu kommt die Konzeption der Serie als detektivähnliche Mystery-Geschichte, die eine Mischung aus düsterer, in weiten Teilen unsympathischer Zukunftsvision (zu der auch die Charaktere beitragen, die absichtlich „anti-moe“ entworfen wurden) und spannenden, mit diversen Wendungen versehenen, bisweilen auch recht actionreichen Polizeigeschichten erzeugt.
Psycho-Pass ist derzeit enorm populär in Japan; eine elf Folgen umfassende Fortsetzung endete vor einigen Tagen mit der Ausstrahlung im japanischen Fernsehen und für das kommende Jahr ist bereits ein Kinofilm angekündigt. Die Story aus dystopischem Überwachungsstaat, hochtechnisierter Kriminalaction und gesellschaftsphilosophischen Dialogen macht nachdenklich, regt zum Weiterverfolgen an und ist nicht zuletzt auch äußerst gut animiert wie musikalisch unterlegt. Wie lang sich das Produktionsteam weitere Ideen für die Szenerie, die es geschaffen hat, überlegen kann, ist natürlich ungewiss – mit dem bevorstehenden Start des Kinofilms ist jedoch zunächst einmal gesichert, dass das Werk die Fortsetzung findet, von der man sich nach dem Betrachten der bisherigen zwei Serien durchaus erneut eine Menge erhoffen kann.
Ein ziemlich beängstigendes Szenario in einer Welt zu leben, in der die Gedanken nicht mehr frei sind – das einzige dessen wir uns heutzutage noch sicher sein können. Umso spannender ist es, dass dieser Anime genau das aufgreift. Ich habe den Anime nicht gesehen, halte die Thematisierung aber für eine sinnvolle Sache, da er nicht nur unterhält, sondern auch zum Nachdenken anregt. Was ist wichtiger, die Sicherheit der Gesellschaft oder die Freiheit eines Individuums? Der Anime scheint eine Welt zu zeigen, in der eine sichere und funktionierende Gesellschaft das höchste Gut ist. Auf Kosten des Einzelnen. Bleibt zu hoffen, dass dieses System eine fiktive Zukunftsvision bleibt.
Der Beitrag ist in jedem Fall sehr gut geschrieben und hat mein Interesse geweckt, in diesen Anime reinzuschauen.
Ein weiterer Aspekt, der zu Ihrem Kommentar passen würde, ist, dass die Personen, die in dieser Gesellschaft leben, vom Sibyl System beurteilt werden und anhand ihrer Fähigkeiten und Intelligenz in Berufe eingeteilt werden. Manche Personen haben eine große Auswahl an Berufsfeldern, andere müssen einen bestimmten Beruf ausführen, auch, wenn sie dieser überhaupt nicht interessiert. So wird jedes Individuum möglichst nutzbringend für die Gesellschaft eingesetzt. So ist es unvermeidbar, dass einige Menschen unzufrieden sind und aus dem System ausbrechen wollen. Ist es nicht ihr gutes Recht, eigene Interessen zu verfolgen? Sie haben Recht, dieser Anime bietet sehr viel Stoff zur Dirkussion und das macht ihn so interessant, was der Artikel sehr gut vermittelt.
Vielen Dank für den Artikel! Ich kann mich meiner Vorschreiberin nur anschließen, ein eloquenter Beitrag, der sehr gut in das zentrale Thema des Anime einführt. Ich habe in diese Serie noch nicht reingeschaut, aber die Handlung erinnert mich sehr an Spielbergs „Minority Report“ und die literarische Vorlage von Philip K. Dick. Besteht da eine Beziehung?
Ja, Shiotani nannte als einen der Einflüsse für den Anime u.a. Minority Report, aber auch noch ein paar andere Werke, die ins dystopisch-futuristische hineingehen, z.B. Gattaca oder Blade Runner. Auch Gen Urobuchi, der das Szenario geschrieben hat, hat angegeben, sich von Philip K. Dick inspirieren zu lassen. Scheint also schon so, als hätte man bei der Konzeption von Psycho-Pass eine Reihe von bekannteren Werken dystopischer Fiktion als Vorbild genommen, was sich, wie ich finde, auch im Anime widerspiegelt.
Vielen Dank für die ergänzenden Informationen! Psycho Pass knüpft also tatsächlich bewusst an den internationalen Science-Fiction-Kanon an, das klingt vielversprechend 🙂
Psycho-Pass ist wirklich ein unglaublich interessanter Anime, der seit langem mal wieder auf einem wirklich hohen Level, was Gesellschaftskritik und Gedankengänge angeht, ist. Ich habe beide Staffeln mit Spannung verfolgt und finde besonders diesen Aspekt der „Nichtheilbarkeit“ interessant. Mich erinnert da immer so ein wenig an das Sprichtwort, dass Menschen sich nicht ändern können.
Auch sehr interessant finde ich die Funktionsweise des „Sibyl-Systems“. Da ich niemanden spoilern möchte, werde ich es jetzt nicht im Detail erklären, aber es stellt sich mir dort so ein wenig Frage, ob das wirklich „gerecht“ ist bzw. ob es überhaupt jemals ein System geben könnte, was „gerechte“ Urteile fällen kann, obwohl man hier natürlich erst einmal definieren müsste, was man unter gerecht versteht. Genau da würde dann wohl auch das Problem liegen.
Gerade diese Frage nach der Gerechtigkeit hat mich sehr nachdenklich gemacht und zeigt im Grunde auch, dass in der Welt alles so ein wenig zu „schwimmen“ scheint und selbst das beste System wohl letztendlich fehler aufweist.
Psycho-Pass ist einer der wenigen Animes, der meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, hauptsächlich durch die Thematik.
Der Anime greift wirklich viele interessante Themen auf, so zum Beispiel die Einstellung der Bevölkerung zu diesem System, das auch nicht immer fehlerfrei laufen kann.
Ist schon ziemlich hart zu gucken, aber es lohnt sich auf jeden Fall.
Wirklich spannender Artikel zu einem wahnsinnig guten Anime.
Als ich ihn zum ersten mal gesehen hab war ich auch bgeistert, und musste auch an „Minority Report“ denken. Daher fand ich die Story nicht unbedingt bahnbrechend, aber dennoch sehr gut geschrieben und spannend erzählt.
Wo Psycho-Pass aber wirklich strahlt ist in der visuellen Gestaltung dieser dystopischen Zukunftswelt. Die riesige Stadt wirkt wirklich erdrückend und furchbar düster, was den allgemeinen Ton der serie untermauert. Später dann im Anime wenn die Story sich auch außerhalb der Stadt entwickelt merkt man erst wie finster diese überhaupt war. Außerdem ist der OST auch nur zu empfehlen.
Ich habe den Anime auch schon gesehen und er hat mir v.a. dadurch so gefallen, dass er das Motiv einer Dystopie (wie sie bis jetzt überwiegend in westlicher Literatur zu finden war) so deutlich in den Vordergrund stellt. Dass sich Shiotani so sehr auf eben solche Werke bezogen hat, wusste ich noch nicht..
Ich finde in „Psycho Pass“ außerdem so auffällig, dass sich wirklich absolut alles von der Technologie abhängig macht (Ob das eine Anspieliung auf den speziell japanischen technologischen Fortschritt ist?). Außerdem beschränkt sich diese Dystopie auf den Raum Tokyo, wo also inzwischen allen Bürgern vorgefertigte, passende mehr oder minder qualifizierte Lebensäufe aufgedrückt werden. Wenn sich Shiotani auf westliche Literatir bezieht, könnte dies dann auch eine angedeutete Kritik am „uniformen Lebenslauf“ in Japan sein?