
„Historically, at many key points in its development, manga intersects with cinema and animation, to the point that manga almost appears to be a variety of moving image.“ (Lamarre 2009: 286/87)
Bewegung im Stillstand, Geräusche als Worte, Überschreitung von Bildgrenzen … In unserem Seminar haben wir uns in den letzten Wochen mit den stilistischen Eigenheiten von Manga beschäftigt – und wie auch Lamarres Aussage verdeutlicht, liegt es dabei nahe, die Stilmittel des Manga mit denen des Films abzugleichen und so Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten.
Tezuka Osamu, der Schöpfer von „Astroboy“, „Buddha“ und „Adolf“, gilt als einer der ersten Mangaka, die bewusst Techniken des Films für den Manga adaptiert haben. Viele andere folgten seinem Vorbild. An folgendem Beispiel, dem shôjo-Manga Yuki no taiyô („Yukis Sonne“, 1963) von Chiba Tetsuya, kann man sehr schön diese filmische Arbeitsweise sehen:

Zunächst einmal sei bemerkt, dass es sich hier um eine Originalzeichnung von Chiba handelt – was daran erkennbar ist, dass die Beschriftung der Sprechblasen (lettering) hier nachträglich aufgeklebt wurde. Eine deutliche Anlehnung an den Film ist die Entwicklung einer Dramaturgie durch den Einsatz von Einstellungsgrößen und Perspektiven. So ist zunächst das Mädchen Yuki auf dem Pferd in der Halbtotalen zu sehen, woraufhin auf ihr Gesicht zur emotionalen Verdichtung in Großaufnahme fokussiert wird. Das Pferd wird aus einer leichten Untersicht gezeigt, was es im Vergleich zu Yuki noch größer erscheinen lässt.
Es folgt ein Szenenwechsel: Es ist eine Art Vorhang zu sehen, und im Anschluss daran ein Gesicht mit einer Atemmaske in einem Krankenhausbett. Es wird deutlich, dass Yuki zu diesem Mann eilt, der sich hier (offenbar mit letzter Kraft) mit den versammelten Ärzten unterhält. Die Krankenhausszene wird mit einem Detail – dem Vorhang – eingeleitet, das offensichtlich für die Blick-Perspektive des Kranken steht. Erst das letzte Bild der Szene zeigt die Krankenhausszene in der Totalen, die Bildführung geht somit hier vom Detail zur Gesamtübersicht (die hier zusätzlich in einer starken Aufsicht dargestellt wird). Die gesamte Seite ist damit äußerst filmisch aufgebaut: Die Anordnung der Bilder legt nahe, dass hier zwei Ereignisse parallel ablaufen, ein typisches Verfahren der Montage im Film.
Sehr deutlich wird die filmische Montage auch in der Geschichte Aki no tabi („Reise im Herbst“, 1971) von Hagio Moto adaptiert:

Hier fährt ein Sohn mit dem Zug davon, und sein Vater (der ihn viele Jahre nicht gesehen hat), läuft hinter dem Zug her. Vater und Sohn werden hier im Schuss-Gegenschuss-Verfahren präsentiert, sie blicken sich noch an, während sie sich immer weiter voneinander entfernen. Zusätzlich werden in einer Parallelmontage auch noch Kindheitserinnerungen des Jungen in die Szene montiert, wodurch hier verschiedene Zeitebenen eine Präsenz erhalten. Auf diese Weise werden häufig im Comic filmische Mittel zum Einsatz gebracht, wie auch Burkhard Ihme in einem Aufsatz über Montage im Comic (Pdf-Link) dargestellt hat.
Es gibt aber auch vieles, das den Manga vom Film unterscheidet. Einer der wichtigsten Aspekte ist, dass die Manga-Panels (jap. koma) – im Unterschied zu den einzelnen Einstellungen im Film – von unterschiedlicher Größe und Form sein können und auch nicht unbedingt eine feste Begrenzung darstellen. Die Panel-Gestaltung wird damit zu einem weiteren wichtigen Stilmittel des Manga. Darüber hinaus ist sehr wichtig zu beachten, dass ein Manga-„Leser“ (der ja zugleich auch Betrachter ist) eine gesamte Doppelseite vor sich hat und somit immer zugleich Gesamtanordnung und Einzelbild rezipiert. Lamarre nennt diesen Effekt „exploded projection“: Die Bilder liegen als eine Art Diagramm des Handlungsabschnitts vor dem Leser, der im Rezeptionsprozess ähnlich wie ein Filmprojektor die Handlung zum Laufen bringt.
Die Auflösung von Panel-Grenzen wurde vor allem von shôjo-Manga-Zeichnerinnen vorangetrieben, wie diese weitere Doppelseite aus Hagio Motos Aki no tabi zeigt:

Auf der rechten Seite sind zwei Bildebenen zu erkennen: Im Vordergrund ist ein Junge zu sehen, der in einem Zug sitzt und nachdenkt. Die Panels im Hintergrund (die sehr offen gestaltet sind) repräsentieren die Erinnerungen an seine Kindheit, in der er mit seiner ganzen Familie in einem Haus am See gelebt hat. Die Auflösung der Panels ermöglicht hier somit eine geschickte Darstellung von zwei Zeitebenen (und deren Verknüpfung) auf einer Seite. Auch in Abb. 1 findet sich rechts oben eine Überschreitung der Panel-Grenzen, die die Wucht des Pferdes sowie die Schnelligkeit und Gefährlichkeit des Ritts zusätzlich unterstreicht.
Eine Besonderheit des Manga (und Comics allgemein) ist, wie Köhn und Schönbein (2000, Pdf-Link) erläutern, auch der Einsatz von Soundwords, Speedlines und visuellen Metaphern. In Abb. 2 wird zum Beispiel deutlich, wie Hagio Moto sowohl Soundwords (hier in englischer Übersetzung D-DMP für die Geräusche des Zuges auf den Schienen) als auch Speedlines nutzt, um die Dramatik der Situation noch stärker herauszurabeiten. Visuelle Metaphern können Symbole sein, wie ein Herz für Liebe, oder speziell im Manga auch bestimmte visuelle Marker für Emotionen, wie ein großer Schweißtropfen neben dem Gesicht, der für Verlegenheit steht.
Im Seminar haben wir uns auch mit Manga beschäftigt, die sich auf die Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 und auf die damit verbundenen Folgen konzentrieren. Stilistisch interessant war dabei unter anderem der Manga Ichiefu (1F) von Tatsuta Kazuto, der 2014 erschienen ist. Tatsuta Kazuto hat nach der Katastrophe (ab Juni 2012) selbst ein halbes Jahr im Kraftwerk von Fukushima gearbeitet und berichtet minutiös in Manga-Form von seinem Arbeitsleben. Dabei setzt er häufig filmische Gestaltungsmittel ein, aber auch Schaubilder, die wie aus einem Lehrbuch wirken:

Tatsuta nutzt hier ein Schaubild, um dem Leser den Aufbau der gesamten Kraftwerksanlage zu veranschaulichen. Er stellt somit durch Abstraktion etwas dar, was z.B. in einem Dokumentarfilm nur mit einer Kamera nicht erfasst werden könnte. Ähnliche Veranschaulichungen finden sich in Ichiefu mehrfach. Im Film kommen für die Darstellung solcher komplexer Sachverhalte häufiger Animationssequenzen zum Einsatz, wie z.B. auch in der Fukushima-Dokumentation von Ranga Yogeshwar, die vor kurzem in der ARD lief.
Fallen Ihnen noch weitere spezifische Stilmittel des Manga ein? Und kennen Sie noch spannende Beispiele?
Zitierte Sekundärquellen:
Köhn, Stephan; Schönbein, Martina (2000): „Dem Story-manga auf der Spur. Potentielle Prototypen des modernen japanischen Comics in der Text/Bild-Tradition der Edo-Zeit.“ In: Japonica Humboldtiana 4 (2000), S. 21–58.
Lamarre, Tomas (2009): The Anime Machine. A Media Theory of Animation. Minneapolis: University of Minnesota Press.